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#IchBinArmutsbetroffen | Inflation und Armut: So sieht der Alltag mit 800 Euro Einkommen pro Monat aus


Link [2022-06-11 14:42:41]



Einkaufen in der Inflation, das bedeutet für Anna Klein manchmal Heulkrämpfe. Eine Alleinerziehende berichtet von den Preisschwankungen für Würde

Zwei Euro fünfundneunzig. Sie schaut auf das Toilettenpapier, dann wieder auf das Preisschild, da steht es: 2,95 Euro. Eine 9, wo sie eine 7 erwartete, eine 9 in Anna Kleins* Magen. Sie steht im Netto, es ist der letzte Supermarkt ihrer Route, sie war schon im Lidl, weil es da Rindsrouladen im Angebot gab, Clara* isst so gerne Gulasch, aber das Gulaschfleisch gab es nirgends billiger, dafür das Rouladenfleisch im Lidl, und aus Rouladen Gulasch zu machen, das wird Anna Klein ja wohl noch hinbekommen. Danach war sie bei Famila, weil hier gerade ihr Sojajoghurt im Angebot ist, dann im türkischen Markt, wo sie die spitzen Paprika kaufte, und jetzt steht sie hier im Netto, und das Toilettenpapier kostet 20 Cent mehr, als sie eingeplant hat. Anna Kleins Magen schreit, aber ihr Mund nicht, das hat sie gelernt: Wie sie ruhig bleibt, wenn der Frust sich durch ihren Körper frisst. 20 Jahre Therapie. Sie spürt stumm, wie ihr der Trotz den Hals hochklettert: Dann halt nicht! Dann kaufe ich das verdammte Toilettenpapier halt nicht. Aber sie weiß, sie braucht das verdammte Toilettenpapier. Anna Klein nimmt eine Packung Toilettenpapier für 2,95 Euro und legt sie in ihren Einkaufswagen.

Ihre Einkäufe bestreitet Klein von ihrer Erwerbsminderungsrente plus Sozialhilfe plus Unterhalt, zusammengerechnet ist das Hartz-IV-Satz, für sie und ihre neunjährige Tochter also: 813,88 Euro im Monat.

„Also ich glaube, es ist so: Es gibt reiche Menschen, und dann gibt es auch Menschen, die arm sind, so ungefähr wie wir.“ Das sagt nicht Anna Klein, das sagt ihre Tochter Clara. Sie hat sich mit uns an den Esstisch gesetzt, oder den Wohnzimmertisch, das ist hier das Gleiche, „und es wäre schön, wenn die reichen Menschen auch mal teilen würden“. Clara schaut mich an, verhuschte Augen unter blondem Zopf. „Schreibst du das auf?“ Ich schreibe das auf. „Kennst du denn reiche Leute?“ Sie: „Donald Trump.“ – „Und abgesehen von Trump?“ – „Ja, Marvins* Haus!“ Anna Klein lacht. „Na, ob die reich sind, weiß ich ja nicht“, sagt sie, „es ist das Haus von einem Schulkameraden, einmal waren wir da, Clara konnte nicht glauben, wie viel Platz es da gab. Und weißt du, warum wir arm sind?“ „Mhm“, nickt Clara: „Weil du nicht arbeiten kannst, du hast zwei Krankheiten. Die eine vergesse ich immer ... Die andere heißt Migräne.“

Anna Kleins Wohnung zeigt Anna Klein nicht gerne. „Ich habe immer Sorge, wenn jemand neues in meine Wohnung kommt, das er sich darüber äußert, wie ‚arm‘ sie aussieht. Manchmal sage ich deshalb Spielbesuch für mein Kind ab“, twitterte sie, Hashtag: IchbinArmutsbetroffen. Die Wohnung ist vor allem klein, und sehr voll. Rechts die Küchenecke mit Herd und Spüle, davor der Tisch, davor zwei Betten, neben den Betten der Schreibtisch mit Computer, am Fenster einige Pflanzen, rundum an den Wänden Regale voller Teller, Kuscheltiere, Figuren, Wäsche, Kleidung, Ordner, Puppen, Papier, Mehl, Dosen, Tassen, wieder Teller. Nebenan im halben Zimmer: Schmales Hochbett, darunter ein Schreibtisch, der Boden übersät von Glitzer, Spielzeug, Kleidern. Aber hier schläft Clara gerade nicht, Clara schläft gerade neben ihrer Mutter im Schlafzimmer, also im Wohnzimmer, also in der Küche; je nachdem.

Ab 18 Uhr ist Gemüse billiger

Clara geht zu einem der Regale, sie stellt sich auf die Zehenspitzen, zieht ein Bild herunter und gibt es mir: Ein Seehund kuschelt mit einem Seepferdchen im Meer, große, schwarze Knopfaugen und geringelter Seepferdchenschwanz, aber es ist das Wasser, das mich fesselt, etwas ist mit dem Wasser. Es ist nicht einfach blau, sondern es ist grün und blau und grünblau und türkis, „das Wasser sieht ja toll aus“, Clara nickt: „Ja. Habe ich getupft, Acryl.“ Sie legt das Bild wieder auf das Regal. „Für die Flasche sind wir zu arm, oder, Mama?“ – „Sie meint die Air-up-Flasche. Dieses Aroma-Zeug, mit dem Wasser nur durch den Geruch zu Limo wird. Ja, Clara, die ist uns zu teuer.“ Clara geht in ihr halbes Zimmer.

Ich mustere Anna Klein. Die langen blonden Haare in einem strengen Pferdeschwanz, eine eckige Brille, vielleicht einen Tick kleiner, als die Großstadtmode vorgibt, dahinter sprühende Augen; dunkelblaues Chapati-Shirt, darunter ein sportlicher Körper. Anna Klein bietet mir weißen Tee an, „Wie lange muss der ziehen?“, frage ich, als der Beutel darin auf und ab schwebt, „Weiß nicht“, sagt sie, „ich bin Kaffeetrinkerin“. Wie viel hiervon ist Alltag, wie viel ist der Besuch einer Journalistin?

„Hinter Armut“, sagt Anna Klein, „steht immer eine Geschichte“. Anna Klein wird zur Erzählerin. Herkunftsfamilie: untere Mittelschicht, sagt Klein, also Häuschen, Auto, gerade so, und Gewalt, viel Gewalt. Als Klein eine Gymnasialempfehlung bekam, hieß es: Mädchen gehen nicht auf das Gymnasium. Also Realschule, Abschluss, Auszug. Zusammenbrüche. Depression, Angstzustände, Migräneattacken, Heulkrämpfe, Lähmungserscheinungen, Magersucht, Bulimie, Ausbildung zur Erzieherin. Sie bekommt ihren ersten Job: 960 Euro im Monat für ihre Arbeit als Gruppenleiterin in der Jugendarbeit. Migräneanfälle, Depression. Anna Klein arbeitet, sie arbeitet hart: Therapie. „Sie brauchen Struktur im Leben“, sagt ihre Psychologin, Anna Klein entscheidet, ihr Abitur nachzuholen. Sie zieht in eine größere Stadt – und erfährt, dass sie den Umzug hätte beantragen müssen, das Amt zahlt die Erstausstattung nicht. Matratze, Tisch, Stuhl, das ist ihr Besitz. Drei Monate hungern, einmal klaut Anna Klein einen halb gefrorenen Apfel aus einem Garten. Dann klappt alles mit dem Sozialamt, aber aus dem Hungern hat sich eine Magersucht entwickelt. Anna Klein kämpft sich zur Schule, mal schafft sie es, dann nicht. Ein Attest schützt sie vor dem Schulverweis. Ihre Matratze schimmelt. Chronische Blasenentzündung. Anna Klein macht ihr Abitur: 2,4.

Sie wird Leiterin einer Kita-Gruppe im Brennpunkt. Gewalt, Stress. Und immer: Migräneattacken, Depression. Anna Klein macht weiter Therapie. Schließlich kommt sie zu der Erkenntnis: Entweder werde ich eine Familie haben, oder ich werde arbeiten. Beides geht nicht.

Anna Klein bekommt Clara – und eine Erwerbsminderungsrente. „Ich habe zwanzig Jahre Therapie hinter mir, ich weiß, warum ich nicht arbeiten kann. Was mich stört, ist das Bild, dass die Leute von uns Armen haben. Diese Jacke hier“, sie zeigt auf ein Regencape, das neben dem Esstisch an einer übervollen Garderobe hängt, „die brauche ich, weil ich ständig mit dem Rad durch den Regen fahre, von einem Laden zum anderen. Das ist so eine teure Marke, die man in Golfclubs oder so trägt. Darauf werde ich angesprochen: Wie konntest du dir die denn leisten?! Die Leute denken echt, Armut muss man sehen können. Kann man aber nicht, zumindest nicht an den Klamotten. Die Jacke habe ich aus dem Sozialkaufhaus. Da kriegt man gute Sachen. Wenn man oft genug hingeht. Mit dem Neun-Euro-Ticket fahre ich bald in den nächsten Ort, zum besseren Sozialkaufhaus.“ Anna Klein weiß immer, wo es gerade was gibt: Ab 18 Uhr ist bei Netto Obst und Gemüse runtergesetzt. Montag kann sie wieder zur Tafel. „Das Bio-Dinkelmehl hier“, sie zieht ein Kilo Mehl aus dem Regal neben sich, „bekomme ich bei dm für 1,75 Euro. Bio finde ich wichtig; seit meiner Magersucht achte ich darauf, mich und meine Tochter gesund zu ernähren. Und ich habe immer Vorräte hier, drei Wochen kann ich hiervon leben“, ihre Hand fährt über die Vorräte. „Hauptsache, nie wieder hungern.“

WAAAS?! 4 Euro für Joghurt?

Ob sie auch mal zu Edeka geht? „Ja, wenn was im Angebot ist, aber ich fühle mich da so unwohl! Ich habe Angst, dass die Leute in meinen Korb gucken und da meine sechs Gurken und fünf Mangos sehen, weil die gerade runtergesetzt sind. Noch schlimmer ist es in den High-Society-Läden.“ High Society? „Na, Bio Company und so, da denke ich: WAAAS?! Das können sich Leute leisten? Vier Euro für einen Joghurt?!“ Ob Anna Klein verstehen kann, dass auch Bio-Company-Einkäuferinnen jetzt Angst bekommen, weil alles teurer wird? Kann sie. „Ich verstehe, dass alle Angst davor haben, dass sich ihr Leben ändert, ihr Alltag, ihre Normalität. Erst die Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine: Wir alle haben Angst.“

„Kann ich eine Paprika?“ – „Klar.“ Anna Klein steht auf, nimmt eine Paprika aus der Tüte auf dem Esstisch, wäscht sie, schneidet sie auf, gibt sie Clara. „Die isst sie intuitiv, Paprika hilft gegen Migräne: Vitamin C und Betacarotin. Clara hat leider auch schon Migräne.“ In Sachen Gesundheit macht Klein keine Abstriche. „Ich kenne einen, der hat sich mal drei Monate lang fast nur von Kartoffeln ernährt, um genug Geld für seine Hobbys zu haben. Und dann musste er zum Arzt: Mangelerscheinungen!“ Klein geht ins Fitnessstudio und die Kleine zum Kampfsport, der Kurs kostet zwar, aber das bezahlt die Oma. „Sport brauchen wir, nichts hilft besser gegen Depression als Sport.“

Jetzt muss ich aber doch fragen: Wie kann sich Anna Klein das Fitnessstudio leisten, einen Sportkurs für die Kleine, die Reisen zu ihrem Partner im Ruhrgebiet? Ihr Lächeln verschwindet. „Deshalb möchte ich anonym bleiben. Ich habe einen großen Freundeskreis, klassenübergreifend. Manche bekommen Sozialhilfe, manche sind Doktor in Biologie, und die bieten mir Dinge an, die sie nicht mehr brauchen: Klamotten, Computer, so was.“ Ich nicke, und warte. „Die kann ich nicht immer gebrauchen. Ich meine, würden Sie eine Jacke tragen, die Sie hässlich finden? Als Arme muss man nicht alles annehmen. Nein sagen als Arme, das wäre noch mal eine eigene Reportage wert!“ Ich nicke, und warte. „Dann habe ich meine Freunde gefragt: Stört es euch, wenn ich die Jacke verkaufe? Sie waren einverstanden. Und so gehe ich auf den Flohmarkt.“ Ich nicke, und warte. Anna Klein zuckt ungeduldig die Schultern: „Na, das ist Sozialbetrug!“ – „Echt?“ – „Klar, das müsste ich melden und anrechnen lassen“, erklärt Anna Klein. „Oft verdiene ich dadurch über 150 Euro mehr, das leiste ich mir, denn ein Leben lang Hartz IV – da muss man schon kreativ werden. Es würde schon reichen, das Kindergeld bei Hartz IV nicht mehr anzurechnen. Dann wären auch die 20 Cent mehr für Klopapier keine Katastrophe.“

Was ist der Preis für ein würdiges Leben?

Clara kommt wieder, in der Hand ein grünes Blatt Papier, sie hält es mir hin: Brille, kinnlange Haare, Piercing unter den Lippen, rotes Glitzer auf den Wangen. Reporterin aus Berlin, in Blümchen-Pulli. „Du kannst gut malen“, sage ich. „Du bist hübsch!“, sagt Clara und geht los, Malkurs: Kostet 52 Euro. Anna Klein geht auf Twitter, sozialdarwinistische Hasskommentatoren blockieren: Kostet Energie. Ich gehe nach Hause und google Claras Wunschtraum. Air-up-Flasche mit Orange: Kostet 40 Euro.

Info

* Alle Namen geändert

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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