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Gleichberechtigung | Simone de Beauvoir und Gisèle Halimi: Fanzösische Feminismus-Ikonen sind wieder angesagt


Link [2022-05-25 09:13:59]



Französische Feminismus-Ikonen wie Gisèle Halimi erleben ein posthumes Comeback. Was sagen sie uns heute?

Der schönste Job einer Frau?, fragt der Vater regelmäßig beim Abendbrot. „Mutter“, antworten die drei Töchter und lachen nervös. Die Vorbilder der Mutter? Jesus und Jungfrau.

Agnès und Bruno aus Veronique Olmis Roman Die Ungeduldigen sind liebevolle, aber arme Eltern und gläubige Katholiken, eine bescheidene Familie im südfranzösischen Aix-en-Provence, deren Welt sich in den Umkrempelungen der Post-68er-Zeit mehr und mehr aufzulösen scheint: „Ihre Töchter wuchsen mit Einflüssen heran, die sie nicht mehr bestimmten. Ihre Liebe sollte eine Waffe sein, um der Welt entgegenzutreten. Der Mai 68 hatte ihnen Angst gemacht. Von den Studenten, den Feministinnen fühlten sie sich verurteilt, lächerlich und alt gemacht.“

Als im Fernsehen vom Bobigny-Prozess die Rede ist, schaltet die Mutter hektisch aus. Die Anwältin Gisèle Halimi verteidigte 1972 ein Mädchen, das mithilfe seiner Mutter nach einer Vergewaltigung abgetrieben hatte. Ein öffentlichkeitswirksamer Prozess, den Simone de Beauvoir unterstützt hat. Zu extrem für diese christlichen Rechten mit ihrem Glauben an Pompidou und Giscard d’Estaing, an das Ewiggleiche. Agnès geht auf in der Familie, auch wenn ihr die „Sehnsucht nach etwas anderem“ nicht fremd ist. Aber Katholiken brauchen länger für eine Entscheidung.

Die Schlachten der Großeltern

Die älteste Tochter Sabine erfährt vom Skandal um Gabrielle Russier, der Lehrerin aus Marseille, die ihren Schüler liebte. „Jetzt war Aix keine Provinzstadt mehr, man liebte sich gefährlich“, schwärmt sie. Russier muss ins Gefängnis und begeht später in ihrer Wohnung Selbstmord. Sabine will Schauspielerin werden und zieht nach Paris. Die mittlere Tochter teilt ihr Leben zwischen Aix und dem noblen Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine auf, wo sie beim reichen und mächtigen Onkel wohnt, der sich über streikende Arbeiter aufregt und seine Nichte verwöhnt. Sie pendelt zwischen Klassen und Weltanschauungen hin und her, entdeckt den radikalen Tierschutz und die bisexuelle Liebe. 1981 feiert sie François Mitterrands Wahlsieg euphorisch an der Bastille.

Mitreißend, wie empathisch Veronique Olmi diese Familie beschreibt, dieses vermeintlich rückständige Milieu rehabilitiert. „Es ist das Milieu, aus dem ich stamme, aus einer engagierten, katholischen Familie“, erzählt die preisgekrönte Autorin. „Meine Eltern hatten einen starken Willen, sie waren gutgläubig, aber nie gehorsam oder unterwürfig.“ Was beschäftigt sie an dieser Zeit, die so weit weg ist? „Die junge französische Generation entdeckt die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern. So eine verbale Gewalt der Abgeordneten, wie sie etwa Simone Veil entgegenschlug, als sie 1975 ihr Gesetz zur Legalisierung von Abtreibung durchbrachte, ist aus heutiger Sicht undenkbar. Die brutalen Kämpfe, der damals hinterbänklerische Platz der Frau in der Gesellschaft.“

Simone Veil, Gisèle Halimi oder Simone de Beauvoir, die großen Vorkämpferinnen der Gleichberechtigung. Sie organisierten das „Manifest der 343“, das 1971 im Wochenmagazin Nouvel Observateur erschien. Persönlichkeiten wie Simone de Beauvoir, Catherine Deneuve, Marguerite Duras oder Jeanne Moreau, aber auch unbekannte Frauen bekennen darin, abgetrieben zu haben. Alice Schwarzer bringt diese Aktion wenig später nach Deutschland, auf den Titel des Stern, was hierzulande als Beginn der modernen Frauenbewegung gilt.

In Frankreich erleben diese einstigen Ikonen ein posthumes Comeback, nicht als Denkmäler, mit Patina behaftet, sondern sehr lebendig, sind in Filmen, Büchern und Debatten dauerpräsent und auch in Deutschland populär, während Alice Schwarzer für junge Feministinnen ein Auslaufmodell ist. Zu konservativ, zu rückwärts gewandt ihre Vorstellungen von Transsexuellen. Ausgerechnet Schwarzer, die so von den Französinnen geprägt ist, hat sich von ihren Nachfolgerinnen entfremdet, oder die sich von ihr. Frauen wie die Politikerin und Holocaustüberlebende Simone Veil werden bis heute als Vorbilder zitiert. 2018 wurde Veil als fünfte Frau im Panthéon beigesetzt. Präsident Macron würdigte ihren Einsatz für Frauenrechte. „Wir müssen an die Kämpfe von gestern erinnern, um jene von heute weiter ausfechten zu können“, sagt Veronique Olmi. Nichts sei selbstverständlich, in Zeiten, in denen das Abtreibungsrecht in Ländern wie Polen oder den USA in Gefahr ist. Und in der Bundesrepublik der Paragraf 219a erst jetzt abgeschafft wird, der es Ärzt:innen verbietet, über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren.

Auf diese Atmosphäre trifft das neue Buch der Le Monde-Journalistin Annick Cojean: Seid unbeugsam! Sie hat mit der Anwältin Gisèle Halimi kurz vor deren Tod im Juli 2020 über Schlüsselmomente ihres Lebens gesprochen. Gisèle Halimi, 1927 in Tunesien geboren, wurde in einer männerdominierten Welt groß, ihr Vater schämte sich, dass seine Frau ein Mädchen bekommen hatte. Schon als Kind weigerte sich Halimi, ihre Brüder bei Tisch zu bedienen. Später verteidigte sie die junge algerische FLN-Aktivistin Djamila Boupacha, die in der Haft vergewaltigt und brutal gefoltert worden war. Der Prozess machte Halimi berühmt. Sie klagte gleichzeitig französische Kriegsverbrechen in Algerien an.

Die Frau ohne Mann

Halimi war keine Einzelkämpferin: Simone de Beauvoir widmete diesem Fall ihre Kolumne in Le Monde, die Aufsehen erregte. Manchmal sind aus solchen Fällen Gesetzesänderungen entstanden, wie 1974 die Legalisierung der Abtreibung durch die „loi Veil“. In ihren Ideen und Kämpfen standen sich die Frauen bei, aber Gisèle Halimi war erschrocken, wie kalt Simone de Beauvoir war. Menschen mit progressiven Ideen sind nicht unbedingt bessere Menschen.

Von den jüngeren Frauen erwarte sie „nicht weniger als eine Revolution“, hat Halimi kurz vor ihrem Tod erklärt: Zwischenmenschliche Beziehungen basierten noch immer auf dem Patriarchat.

Revolution, Patriarchat, alte Schlagworte, alte Schlachten. Natürlich, junge Frauen profitieren von den damals erkämpften Freiheiten. Aber sie stehen jetzt vor anderen Herausforderungen. Junge Französinnen spüren den Druck, in allem perfekt sein zu müssen: im Beruf, zu Hause, als Mutter und in der Liebe. Gerade in Coronazeiten brach es auseinander, das gesellschaftliche Idealbild. Manche Frauen wollen keine Kinder, was in Frankreich, einem Land, dessen Politik sich von jeher über eine hohe Geburtenrate definiert hat, als Ausschererei gilt. Deswegen ist Kinderlosigkeit eine Randerscheinung. Manche Frauen leben ohne Partner – Phänomene, die überall in der westlichen Welt immer mehr Verbreitung finden. Nur werden in Frankreich solche Lebensmodelle noch immer tabuisiert. Adélaïde Berthel, die Heldin aus Chloé Delaumes Roman Das synthetische Herz, ist frisch geschieden. Ihre Ehe war leer. Jetzt ist sie die Frau ohne Mann. Dafür gibt es in Frankreich noch kein starkes Vorbild. „Dies ist die Geschichte einer Rose, die noch nicht weiß, dass sie zum Mauerblümchen wird. Adélaïde Berthel ist eine Frau wie viele andere. Für die mit sechsundvierzig Jahren das Ende der Mädchenträume eingeläutet wird.“ Sie arbeitet als Pressereferentin in einem renommierten, aber im Niedergang begriffenen Pariser Verlag und soll die von ihr betreuten Autor:innen zu den begehrten Literaturpreisen bringen. Auf dem Heimweg merkt sie, dass sie durchsichtig geworden ist, „überlagertes Fleisch“ auf dem brutalen Beziehungsschlachtfeld. Aber sie hält an ihrer Illusion des perfekten Paares fest.

Alleinstehend? Schon dieses Wort. Als sei das ein Mangel. Sie geht in Clubs, spricht Typen an, sie traut sich, aber nichts passiert. Gleichzeitig macht sie sich Vorwürfe, dass sie mit ihrem Singlestatus nicht so souverän umgeht, wie man es eigentlich von einer modernen, unabhängigen Frau erwarten könnte. Chloé Delaume erzählt es grausam und komisch. Adélaïde trifft sich mit ihren Freundinnen, diese Gemeinschaft gibt ihr Halt. Sie fragt sich letztlich, ob Frauen wirklich Männer brauchen, um sich lebendig zu fühlen.

Frauen müssten klug sein und sich auf verschiedene Szenarien des Alterns vorbereiten, schreibt Chloé Delaume, die für ihren Roman den Prix Médicis bekam. Sie glaube an „Schwesternschaft“.

Info

Die Ungeduldigen Veronique Olmi Claudia Steinitz (Übers.), Aufbau 2022, 448 S., 24 €

Seid unbeugsam! Gisèle Halimi, Annick Cojean Kirsten Gleinig (Übers.), Aufbau 2021, 140 S., 20 €

Das synthetische Herz Chloé Delaume Claudia Steinitz (Übers.), Liebeskind 2022, 160 S., 20 €

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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