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Glauben | Für Versöhnung


Link [2022-06-04 15:29:26]



Navid Kermani schreibt über seinen Islam, schlägt Brücken zu anderen Religionen und zeigt wie eng sie verflochten sind. Die philosophischen Auseinandersetzungen dürften selbst Atheisten gefallen

Navid Kermani ist ein sympathischer Autor und begnadeter Feuilletonist. Ich mag besonders den Linguisten, der seinen Lesern Logik, Unlogik und Verwandtschaftsverhältnisse etlicher Sprachen nahebringt. Als in Deutschland aufgewachsener Sohn von vor Schah Reza Pahlavi aus dem Iran Geflohenen hat er aus seiner doppelten Identität kulturellen Reichtum erzeugt.

Während die meisten Angehörigen der iranischen Diaspora in Deutschland vor dem Iran der Mullahs geflohen sind und „einen regelrechten Abscheu vor der Religion“ haben, weil dort „im Namen der Religion gefoltert und gemordet wird“, fühlt sich Kermani dem Sufi-Islam seiner Eltern verbunden. Nach dem Tod des Vaters versucht er, seiner 12-jährigen Tochter einen weiten Begriff des islamischen Glaubens nahezubringen. Daraus ist ein Buch geworden, das philosophische und philologische Brücken zu anderen Religionen schlägt – genau das, was Fundamentalisten jedweder Couleur zu verhindern suchen. Als Linguist macht er klar, dass „Islam“, „Salem“ und „Schalom“ dieselbe semitische Wurzel haben, deren Grundbedeutung „Frieden schließen“ ist. Der Islam erkennt alle alttestamentarischen Propheten an.

Ein Teil der Unendlichkeit

Moses heißt hier auch „das Wort Gottes“; Abraham ist „der Freund Gottes“, und selbst Jesus wird anerkannt als „der Geist Gottes“. Dass Jesus im Koran auch ausdrücklich „Christus“ genannt wird, „also der Erlöser oder Messias“, soll die Tochter „ruhig mal“ der Religionslehrerin in der Schule sagen, „wahrscheinlich weiß sie das gar nicht. (…) Woher auch, wenn es selbst die meisten Muslime vergessen haben?“ Wenn sich das Christentum bislang kaum für das beachtliche Substrat interessiert, mit dem es – wie auch das Judentum – den Islam geprägt hat, ist das ein Zeichen für unbewussten christlichen Fundamentalismus. Dass Kermanis Tochter offenbar am christlichen Religionsunterricht teilnimmt, stellt für eine dem Sufismus verbundene Familie keinen Widersinn dar. Fand ihr Großvater auf Reisen keine Moschee, betete er auch mal in einer Kirche. Ihrem Vater kommt es auf die „Überlappungen“ der Religionen an: In Goethe erkennt er einen „christlichen Mohammed“, und bei manchen aktuellen amerikanischen Autoren findet er gar eine „jüdische Lesart Buddhas“. Solche „Querverweise und Aneignungen machen die Religionen so viel anziehender, (…) als wenn jede nur in eine einzige Schublade passt“.

Für Agnostiker könnte interessant sein, dass der Sufismus in Gott die für den Menschen unbegreifliche Unendlichkeit von Raum und Zeit sieht. Das soll keine Angst machen, sondern die tröstliche Erkenntnis fördern, dass man selbst Teil dieser Unendlichkeit war, ist und sein wird. Gott verkörpert damit zwar das System der Naturgesetze und ist Herr der Kausalitäten – aber auf keinen Fall jener bösartige Buchhalter, der all unsere Fehler und guten Taten auflistet, um uns am Tag des Jüngsten Gerichts abzuurteilen.

Das dem Schlaraffenland ähnelnde „Bild des Paradieses“ wird im Koran selbst als „Bild“ bezeichnet, womit also keineswegs behauptet wird, „dass es dort wirklich so sein wird“. Kermani erinnert an eine Mystikerin namens Rabia, die im 8. Jahrhundert mit einem Eimer Wasser in der einen Hand und einer Fackel in der anderen durch Basra lief und auf die Frage, warum sie das tue, sagte: „Ich will die Hölle löschen und das Paradies verbrennen, damit Gott nur noch für seine ewige Schönheit geliebt wird.“

Dass der Koran die Muslime zum Relativieren und Zweifeln anregen will, beweise das häufigste in ihm vorkommende Wort: „vielleicht“. Im Unterschied auch zum modernen islamischen Fundamentalismus lehnte es der Sufismus schon immer ab, die Bilder und Geschichten der religiösen Schriften wörtlich zu nehmen. Ihre geistige Botschaft soll auf die eigene Zeit und deren Erkenntnisse bezogen werden.

Nichts Ausgedachtes

Das Wort von der „ewigen Schönheit“ Gottes ist freilich nicht einfach hinnehmbar. Obwohl Kermani der Tochter bereits mehrfach versichert hat, dass Gott gerade nicht alles Geschehen auf der Erde kontrolliert, wirft sie die Frage auf, wieso er das viele Unglück und Unrecht zulässt, das wir täglich vor Augen haben. Wenn er hier mit dem Argument antwortet, dass Gott sich in der ihm eigenen Zeitdimension womöglich noch am siebten Tag befindet und ausruht, sinkt er doch einmal auf pfäffisches Niveau herab. An anderer Stelle überzeugt er mehr: Der islamische Gott hat den Menschen nicht als sein Ebenbild, sondern ausdrücklich als seinen Stellvertreter geschaffen, womit ihm von vornherein die Verantwortung für Gedeih und Verderben auf der Erde übertragen wurde. Wie stark der Koran diese Eigenverantwortung des Menschen hervorhebt, zeigt sich auch daran, dass Gott ihm hier keine „Erbsünde“ auf die Schultern gelegt hat – eine Last, die seine Freiheit zur guten Tat von vornherein einschränken würde.

Kermani schlägt keine ziellosen Ausflüge in die Metaphysik vor, sondern eine praktische Versöhnung mit dem Geschenk des Lebens und den daraus erwachsenden Verpflichtungen für Gläubige und Nichtgläubige. Weil Geschichte und gegenwärtige Ausformungen der Religionen, einschließlich der Esoterik, nach wie vor „große gesellschaftliche Relevanz haben: Oft denke ich: Der Koran, die Bibel, das Tao-Te King, all die Heiligen Schriften der Menschheit – sie sind keine Visionen, Lehren oder Philosophien, schon gar nichts Ausgedachtes oder Phantasiertes. Sie sind Erlebnisse, die in Form von Bildern, Geschichten, Ritualen erinnert werden, weil sie zu verwickelt sind für den Verstand, zu aufwühlend für einen bloßen Unterricht, zu widersprüchlich für eine These: Erlebnisse der Völker und Erlebnisse von Einzelnen.“ Mit Kermani macht es Spaß, sie zu deuten.

Info

Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen Navid Kermani Hanser 2022, 240 S., 22 €

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