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Gespräch | Ein Schnitzel, ist das Tier?


Link [2022-05-26 19:59:54]



Der Kulturwissenschaftler und Philosoph Thomas Macho erklärt, warum wir Tiere essen – und gelangt zu überraschenden Antworten

Eigentlich sollte das Gespräch über Tierwohl und Fleischkonsum mitten in Berlin stattfinden, bei einem Spaziergang in der Dämmerung, wenn einem auf der Straße zufällig Füchse begegnen können. Leider muss Thomas Macho kurzfristig nach Österreich reisen, aus dem Treffen wird darum eine Videoschalte. Ein lockerer Einstieg böte sich an, wenn die Katze des Fragestellers – wie sonst üblich um diese Zeit – dösend hinter ihm auf ihrem Schlafplatz läge. Tut sie aber diesmal nicht. Also geht es sofort ans Eingemachte.

der Freitag: Herr Macho, der Ukrainekrieg wird in einigen Weltregionen zu Hungerkrisen führen. Ist es schlechtes Timing, dass Sie ausgerechnet jetzt Ihr neues Buch „Warum wir Tiere essen“ veröffentlichen, in dem Sie unter anderem für global weniger Fleischkonsum plädieren?

Thomas Macho: Mein Blick im Buch richtet sich vor allem auf die reichen Länder des industrialisierten Westens, in denen es eine Fleischwende braucht. Was wir aber sicher auch brauchen, ist eine Umverteilung des Fleischkonsums. Das galt schon vor dem Krieg in der Ukraine. Wobei sich dabei zugleich die Frage stellt: Welches Fleisch soll da umverteilt werden? Bei der Frage nach Medikamenten gab es beispielsweise immer wieder solche Versuche, die den Pharmaunternehmen einen Imagegewinn bringen sollten. Am Ende wurden nur abgelaufene Produkte oder wirkungsarme Billigproduktionen versendet. Es gab auch eine Debatte um die Freigabe von Patenten für Impfstoffe gegen Covid-19, und dann waren die Profitinteressen der Konzerne wichtiger als das Wohl der Menschen. Hinzu kommt, dass der Pro-Kopf-Verzehr von Fleisch in den ärmeren Ländern viel niedriger liegt als bei uns, wegen der hohen Bevölkerungszahl aber dennoch ins Gewicht fällt, wenn es ums Tierwohl und die Klimabilanz geht.

Die Ukraine gilt als „Kornkammer Europas“. Der Ausfall der Getreide-Exporte wird eine Katastrophe für viele Menschen. Warum können andere Länder das nicht kurzfristig auffangen?

In Deutschland nutzen wir 60 Prozent der Anbauflächen für Tierfutter, um das System der Massentierhaltung am Laufen zu halten. Das ist den meisten Leuten gar nicht bewusst, und darum muss man es klar aussprechen: 60 Prozent werden ausschließlich dafür verwendet, Futter für die Tiere zu erzeugen, die unter oft grässlichen Bedingungen leben müssen und zum Verzehr getötet werden.

Der Pro-Kopf-Fleischverzehr in Deutschland lag nach Angaben der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung 2021 bei 55 Kilogramm. Verglichen mit 2011 ist das zwar ein Rückgang um zwölf Prozent. Doch wussten die Deutschen nie so genau wie heute, wie viel unermessliches Leid den meisten Tieren angetan wird, die auf dem Teller landen, weil die Medien oft darüber berichten. Wieso essen die Leute trotzdem noch immer so viel Fleisch?

Der Fleischatlas 2021, der von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem BUND und Le Monde Diplomatique herausgegeben wird, kommt im größeren Kontext zu einem anderen Ergebnis: In den entwickelten Ländern liegt der jährliche Pro-Kopf-Fleischverzehr bei knapp 70 Kilogramm. Ebenso wie die 55 Kilogramm der Deutschen ist das eine Durchschnittszahl. Es essen also viele Menschen sogar 140 Kilo oder mehr. Wir scheuen die Auseinandersetzung mit Schuld- und Tötungserfahrungen, die lange Zeit charakteristisch waren für das Fleischessen. Der norwegische Autor Kristoffer Hatteland Endresen hat kürzlich das Buch Saugut und ein wenig wie wir über Schweine veröffentlicht. Das erste Kapitel handelt fast nur davon, wie Endresen vergeblich versucht, in Norwegen in einen Schlachthof zu gelangen, um die Fleischproduktion in Augenschein zu nehmen. Um uns herum leben viele Millionen von Tieren abgeschottet von jeder Öffentlichkeit, sodass Tierschutzorganisationen nur über die Straftat des Hausfriedensbruchs überhaupt die skandalösen Zustände in den Fabriken öffentlich machen können.

Zur Person

Foto: Jan Dreer

Thomas Macho, geboren 1952 in Wien, war von 1993 bis 2016 Professor für Kulturgeschichte an der HU Berlin. Seit 2016 ist er Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien. Macho ist Autor vieler Bücher, darunter: Schweine. Ein Porträt (2015) und Warum wir Tiere essen (Molden Verlag 2022, 128 S., 22 Euro)

Oft genug gelangen auf diesem Weg grausame Details nach außen. Und trotzdem ändern die wenigsten Menschen ihr Essverhalten. Entweder ist es ihnen egal, wie qualvoll Schweine und Hühner gehalten werden, oder sie verdrängen es. Warum ziehen so wenige Menschen die Konsequenz, auf Fleisch zu verzichten?

Weil nicht nur die grausame Haltung und Schlachtung der sogenannten Nutztiere unsichtbar geworden ist. Heute essen wir auch deshalb Tiere, weil wir gar nicht mehr wissen und bemerken, dass wir Tiere essen. Man sagt nie: ich esse Schwein, Rind oder Schaf, sondern ist immer schon bei der Zubereitungsform: Schnitzel, Gulasch, Schinken. Fast alle diese Lebensmittel erinnern vom Aussehen her nicht einmal mehr ansatzweise an das Tier, aus dem sie gemacht sind. Erstaunlicherweise ist sogar das Huhn, dem man noch ansieht, dass es mal ein Huhn war, weitgehend verschwunden. Dabei gilt das Huhn als eines jener Tiere, für das der Mensch am wenigsten Empathie empfindet. In meiner Kindheit gab es noch häufig fetttriefende Brathendl zu sehen, die an Spießen in der Küche vor transparenten Fenstern hergestellt wurden. Heute essen Kinder lieber Wurst mit Bärchengesicht, Chicken Nuggets mit geometrischer Form oder Fischstäbchen, die nicht einmal mehr entfernt an das fühlende Unterwasserlebewesen erinnern, das es bis zur Tötung durch den Menschen einmal war. Das ist mehr als eine Verdrängung. Es ist eine bewusste Unsichtbarmachung.

Ich kenne das von meinem fünfjährigen Neffen, der mich kürzlich fragte, warum ich kein Fleisch mag. Als ich sagte, dass ich kein getötetes Tier essen möchte, antwortete er: „Aber Fleisch ist doch kein totes Tier.“ In dem Moment, da er den Satz aussprach, sah ich ihm an, dass ihm die Wahrheit klar wurde. Wäre das ein Weg? Sollten Kinder also erfahren, wie ihr Schnitzel entsteht?

Seit der Mensch zum Fleischesser wurde, war er den Tieren meist nah, weil er im Alltag mit den Lebewesen zusammenlebte, die er später aß. In einem Ulmer Gesetz von 1419 wurde der Besitz von Schweinen für Bürger limitiert. Das Limit lag bei 24 Schweinen pro Bürger. Ulm hatte damals also viel mehr Schweinebürger als menschliche Stadtbewohner. Das ist eine heute undenkbare Sichtbarkeit. In Berlin leben angeblich zwischen 8.000 und 10.000 Wildschweine, aber sehen kann man sie nur sehr selten.

Bestenfalls das, was sie hinterlassen …

Kinder sehen kaum noch Tiere, wenn die Eltern nicht zufällig ein Haustier haben und sie nicht ständig in den Streichelzoo gehen. In Österreich gibt es seit Kurzem die Initiative „Lebensmittel Lebewesen“, die junge Menschen befähigen will, mündige Konsumentscheidungen zu treffen. Auf einem Biobauernhof durften sich Kinder je ein Küken auswählen, ihm einen Namen geben und es besuchen. Irgendwann wird dieses Tier getötet und soll gemeinsam gegessen werden. Das ist ein sehr gutes Projekt, weil dahinter nicht die Angst steckt, man könnte jemanden verstören. Ich selbst habe als Kind mehrmals erlebt, wie Schweine, die nicht in Massentierhaltung großgezogen wurden, geschlachtet wurden. Natürlich habe ich danach mindestens ein paar Wochen lang keinen Appetit auf Fleisch gehabt. Die Angst und die Schreie der Tiere haben sich mir eingeprägt. Und ich glaube, dass wir dringend Wege finden müssen, die Sichtbarkeit wiederherzustellen und den Menschen dann die Entscheidung zu überlassen, ob sie weiter Fleisch essen wollen oder zumindest ihren Konsum massiv reduzieren.

Dazu würde auch gehören, die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie offenzulegen, die in Zeiten der Pandemie kurz sichtbar wurden. Nun leben wir aber in Zeiten einer Diskurshegemonie, die der Grausamkeit der Verhältnisse mit einer verzärtelten Sprache beikommen will. Man soll diskriminierende Worte und Bilder nicht mehr verwenden oder zeigen. Auch das ist eine bewusste Unsichtbarmachung. Wie sollte man da Eltern dazu bewegen, ihren Kindern schonungslos vorzuführen, auf welch unvorstellbarem Leid der Fleischkonsum beruht?

Optimistisch stimmt mich da ein Beispiel, das ich im Buch gar nicht erwähne, weil es mir erst später eingefallen ist: das Rauchverbot. Auch vor Jahren wusste bereits jeder, dass es besser ist, nicht zu rauchen. Dennoch wurde in Deutschland jeder Versuch der Politik, mehr Rauchverbote durchzusetzen, jahrelang mit aggressiver Gegenwehr bekämpft. Da war von Bevormundung die Rede und vom Ende der Freiheit. Und es gab eine starke Tabaklobby. Trotzdem ist das Rauchverbot in der Öffentlichkeit inzwischen weitgehend akzeptiert. Es gibt sogar Ersatzprodukte, die verträglicher sind. Gleiches geschieht bereits beim Fleischersatz, dessen Produktion derzeit boomt. Früher musste man fast um Verzeihung bitten, wenn man sich als Nichtraucher outete. Heute bittet man um Entschuldigung, wenn man im Lokal zum Rauchen nach draußen geht. Man wird belächelt als jemand, der es noch nicht geschafft hat, vom klassischen Rauchen loszukommen. Rauchen war früher sozial sehr erwünscht. Das hat sich total verkehrt. Warum sollte sich das beim Fleischverzehr nicht ebenso entwickeln?

Womöglich, weil die Fleischproduktion ein größerer Industriezweig ist und Fleischkonsum kulturell gerade durch die noch nicht lang zurückliegende Kriegszeit ein Symbol ist dafür, dass bei allen Missständen doch im Grunde alles noch irgendwie in Ordnung ist?

Von der Konsumentenseite aus betrachtet bin ich da nicht so pessimistisch. Es würde auch beim Fleisch darum gehen, das scheinbar Selbstverständliche infrage zu stellen. Heute geben Menschen für eine Packung Zigaretten klaglos sieben Euro aus, was noch vor 20 Jahren zu heftigem Protest geführt hätte. Ich hielte es weder für machbar noch für wünschenswert, dass alle Menschen das Fleischessen komplett aufgeben. Der Veganismus, der an sich eine sehr gute Sache ist, erweitert die Distanz zu anderen Lebewesen im Zeichen von Reinheitsidealen. Eine drastische Regulierung der Haltung sogenannter Nutztiere wäre dagegen schon ein großer Fortschritt. Wir sollten auch vor dem Zorn der Leute nicht so viel Angst haben. Die ist vielleicht auch nur ein Teil jenes Prozesses, den man von den Phasen der Trauer kennt. Da steht zu Beginn das Abstreiten der Möglichkeit eines Lebens mit wenig Fleisch. Dann kommt der Zorn über angebliche Bevormundung. Anschließend das Verhandeln darüber, ob man nicht doch irgendwie weiterhin so viel Fleisch essen könnte. Und irgendwann würde die Akzeptanz folgen. Meine Tochter wird heuer 30 Jahre alt. Sie erzählte mir kürzlich, dass sie vor sechs Wochen das Fleischessen aufgegeben habe und es gar nicht vermisse. Dabei wusste sie noch nicht einmal, dass ich ein Buch zum Thema geschrieben habe. An mir lag der Sinneswandel also definitiv nicht. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich früher nach der Schule manchmal einen Burger gekauft hatte, ist verschwunden. Warum sollten nicht auch andere Menschen zu dieser Erkenntnis gelangen?

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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