Arts / Culture >> Der Freitag


Generationenkonflikte | Was bringe ich euch da bei?


Link [2022-01-22 19:40:11]



Autorität, Wissen und Erfahrung standen bisher auf Seiten der Älteren. Ändert sich das? Ein Essay über Halbwertzeiten, Irritationen beim Gendern und den heiligen Augustinus, der kein Griechisch konnte

Altern geschieht in Schüben. Zwar schreitet der Prozess grausam kontinuierlich voran, doch erst anhand physischer oder mentaler Zäsuren bricht die klare Erkenntnis auf, dass wirklich etwas vergangen ist. Es muss 25 Jahre her sein, dass mich auf einem Bahnsteig am Bahnhof Zoo die erste dieser Zäsuren traf – denn um mich herum sah ich plötzlich nur Menschen, die jünger waren als ich, aber längst schon erwachsen. Ein zweiter mentaler Bruch – von den physischen rede ich noch gar nicht – war vor rund zehn Jahren ein öffentliches Podium, auf dem ich über „Sexual Politics“ reden sollte. Unten im Saal schauten mir blutjunge Gesichter entgegen, ob queer oder straight, konnte ich nicht feststellen, nur siedend heiß war der Gedanke: Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ihr im Bett macht. Was um Himmels willen soll ich euch über Sexualität erzählen?

Seither häufen sich die Zäsuren, sie werden zur schmerzhaften Routine, und die letzte stammt aus dem vergangenen Sommer, als ich in einem Kunsthochschulseminar, „Textproduktion für Print und Radio“, einen der Teilnehmer dabei beobachtete, wie er, sichtlich überfordert, versuchte, eine Süddeutsche Zeitung zusammenzufalten. Das war eine Kulturtechnik, die er nicht gelernt hatte und auch nicht mehr brauchte.

Sprachliche Skills: nutzlos

Generationenkonflikte entzünden sich an den Fragen von Autorität, Wissen, Erfahrung, Fertigkeiten und Fitness. Bislang standen Autorität, Wissen und Erfahrung auf Seiten der älteren Generation – etwa wegen gefestigter beruflicher und familiärer Positionen oder auch Lebenserfahrung –, während die Jüngeren mit Geschicklichkeit punkten konnten (oft) und mit Fitness (immer). Agiler sind sie, in der Regel gesünder als die Alten, und die Zeit ist auf ihrer Seite. Sie tragen in sich das Versprechen von Zukünftigkeit.

Doch ganz so fest gefügt ist die Aufteilung heute nicht mehr. Weil sich Lebensformen und Berufswege schnell ändern, ist etwas weicher, vielleicht auch nur diffuser geworden im Generationenverhältnis, vor allem was Autorität angeht. Die Alten sitzen nicht mehr so fest im Sattel, der Gesprächston ist egalitärer, freundschaftlicher als früher, und die üblichen Konflikte zwischen Eltern- und Kindergeneration verlaufen, so scheint es, gemäßigter.

Nicht nur Personen, auch Institutionen haben im schnellen gesellschaftlichen Wandel an Autorität verloren; deutlich zeigt sich das an den klassischen Medien Fernsehen, Print und Radio. Deren Relevanz hat rapide nachgelassen, stelle ich beunruhigt auch an mir selbst fest. Seit mehr als 20 Jahren arbeite ich als Schreiberin, aber in letzter Zeit denke ich öfter: Ich falle aus Print heraus. Das liegt einerseits daran, dass da viele Autor:innen nachgewachsen sind, die ihre Sache sehr gut machen, andererseits daran, dass das eigene Interesse nachlässt, weil man irgendwann alles schon gehört, gelesen und geschrieben zu haben meint. Zugleich aber haben die Zeitungen selbst deutlich an Renommee verloren. In den 1990ern/2000ern fühlte es sich bedeutsam an, die eigenen Texte gedruckt zu sehen, auch weil das irgendwie haltbar aussah. Das war natürlich schon damals eine Täuschung.

Die Studierenden in meinem Kurs lesen keine Printmedien mehr – sie alle beziehen ihre Informationen über Instagram; auf manche meiner Artikel sind sie über irgendwelche Links aufmerksam geworden, während ich Mühe habe, die eigenen Beiträge in den Online-Ausgaben der Zeitungen zu finden. Das gelingt nur noch über Stichwortabfrage. Textproduktion für Print und Radio – was bringe ich euch da bei?, denke ich. Die Halbwertzeit der Bedeutung der eigenen Erfahrung, auch der sprachlichen Skills, verringert sich rapide, nutzlos steht mein Handbuch des Journalismus im Regal, ganz zu schweigen von Deutsch für Profis. Lange war das Buch wichtig, doch jetzt klingen Wolf Schneiders selbstverliebte Erbsenzählereien eher lächerlich: „Jedes weggestrichene Adjektiv ist ein Gewinn.“

Ein Kollege, Feature-Redakteur bei einer großen Rundfunkanstalt, sieht das optimistischer. Die ganze heilige Institution Radio, die hierarchische Maschinerie mit ihrem Personal, dem Equipment, den Tonstudios, den Redaktionen samt ihren Gatekeepern laufe leer, sagt er fast erleichtert. Die jüngeren Featuremacher:innen podcasten, werden von Spotify angeheuert und verdienen damit Geld. Die hohe Kunst, überhaupt Zugang zum Rundfunk zu bekommen, der Umgang mit komplizierter Tontechnik, sei nicht mehr so wichtig. Gut so, findet er. Weg mit den zu schweren Tankern. „Was sollen wir den Jüngeren aber noch beibringen?“, frage ich. „Das, was wir können“, sagt der Kollege. Das ist in seinem Fall, gute Töne zu produzieren, in meinem: sorgfältige Formulierung, Nachdenken, Argumentieren.

Als sie 22, 23 Jahre alt war, wollte sie unbedingt zur Zeit, erzählt eine junge Onlineredakteurin. Sie arbeitet bei einer alteingesessenen Frauenzeitschrift, die dank ihrer Insta-Postings ziemlich hip aussieht. Heute sei sie froh, überhaupt einen Job zu haben, und sie wisse absolut nicht, was die Zukunft bringen wird. Von der älteren Generation abschauen könne sie sich vor allem „Ruhe und Genauigkeit“. Als sie das sagt, schwingt auch ein bisschen Wehmut mit.

Brav und freundlich bedanken sich die Studierenden im Kurs „Textproduktion“ für die Einblicke, die sie gewonnen hätten – für klassische Printmedien schreiben wollen sie keinesfalls. Brav und freundlich achte ich auf korrektes Gendern und halte meine Irritation darüber in Schach, dass sie politisch auf einer geraden Linie zu stehen scheinen. Warum nicken alle bei den gleichen Aussagen, als gäbe es hier keinen Widerspruch? Niemanden verletzen, niemanden ausschließen – ich kenne diese Regel nicht von früher, die Selbstverständlichkeiten waren andere, und auch die Triggerpunkte politischer Empörung.

Wie nehmt ihr mich eigentlich wahr, wenn überhaupt?, frage ich mich in der Begegnung mit wesentlich Jüngeren. Keine Ahnung, für wie alt die Youngsters mich eigentlich halten. Ich kann mich nur daran erinnern, wie ich Ältere früher gesehen habe. Ob die 40 oder 50 oder 60 Jahre alt waren, spielte keine Rolle – sie waren jenseits. Jenseits einer Mauer.

Erfahrungen können nur begrenzt weitergegeben werden, denke ich, viele der Weisheiten der Älteren sind in der Gegenwart nutzlos. Manche Erfahrungen müssen einfach immer wieder neu gemacht werden, und manche lassen sich nicht vermitteln, weil sie nicht vorstellbar sind. Ich weiß noch, wie meine Mutter sagte: „Ach, 50, das ist ja noch gut“ – das fand ich verrückt damals –, und wie ich meinen Vater auslachte, weil er sich über die unlesbare Schrift der Packungsbeilagen von Arzneimitteln aufregte. „Das ist nicht klein gedruckt, du wirst nur weitsichtig, du alter Mann.“ Doch wer lacht zuletzt? Heute weise ich den blutjungen Orthopäden zurecht, der mir mitleidlos das Bergwandern verbietet: „Können Sie vergessen mit den Knien.“ – „Da kommen Sie auch noch hin“, entgegne ich und weiß, dass er sich das nicht vorstellen kann. Auch 20-, 30-, 40-Jährige seufzen übers Älterwerden, doch wie es wirklich ist, ahnt man erst, wenn man Ältere nicht mehr als fremde Gruppe wahrnimmt, sondern in ihnen die eigene Zukunft sieht.

Was aber, wenn einfach niemand mehr weiß, wie ein schwieriger Text zu lesen ist, und wenn es auch nicht mehr wichtig ist? Wenn die Standards sich ändern, der Genitiv halt verschwindet, so wie die ehemals als schön geltende Partizipialkonstruktion, wenn sich keiner mehr daran erinnert, was das war, ein langer Essay, wenn niemand mehr komplexen Satzbau versteht? Sprache ändert sich, Stile und Moden vergehen, und auch – vermutlich – die Kriterien für „Genauigkeit, Präzision, Sachangemessenheit“.

Der heilige Augustinus, ein durchaus gebildeter Mann, konnte schon im vierten Jahrhundert nach Christus kein Griechisch mehr, und was bringen heute Lateinkenntnisse, außer gutbürgerlichem Distinktionsgewinn? „Eine tote Sprache“, sagte schon mein Vater und riet mir, Französisch zu lernen. Das lebt. Ja? Wie lange noch? Altes Wissen und auch alte Weisen, zu denken, sind wertvoll, es ist gut, sie zu kennen, aber es hilft nicht, sich hinter ihnen zu verstecken. Heute weniger denn je.

Andrea Roedig leitete von 2001 bis 2006 das Kulturressort des Freitag . Seit 2007 lebt sie als freie Publizistin in Wien. Etliche ihrer Reportagen und Essays erschienen in Buchform, zuletzt Schluss mit dem Sex (Klever 2019). 2022 erscheint die Monografie Man kann Müttern nicht trauen bei dtv

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



Most Read

2024-09-19 12:24:23