Politics >> Der Freitag


Gastbeitrag | Wenn die humanitäre Hilfe fehlt


Link [2022-04-07 20:14:27]



Afghanistan, Jemen, Äthiopien: vergessen wir angesichts des Ukraine-Krieges die anderen Krisen? Das wäre ein großer Fehler, meint der ehemalige stellvertretende UN-Generalsekretär für Menschenrechte, Andrew Gilmour

Wolodymyr Selenskyj hätte es nicht deutlicher ausdrücken können. „Die Welt muss mit Putin reden“, sagte er am 3. März. „Es gibt keinen anderen Weg, diesen Krieg zu beenden.“ Wir sollten darauf hören. Trotz unserer Wut über die grundlose Aggression, die Bombardierungen, das Leid und die grotesken Lügen. Und trotz des verständlichen Wunsches, unsere militärische Sicherheit angesichts der russischen Bedrohung zu stärken, sollten Deutschland und andere NATO-Staaten Verhandlungen immer noch Vorrang einräumen.

Das Letzte, was viele Menschen jetzt unterstützen wollen, ist ein Dialog mit einer Regierung, die solche Gräueltaten verübt. Aber es ist nicht abzusehen, wie dieser Albtraum für das ukrainische Volk ohne Gespräche zu beenden ist. Es mag tröstlich sein, sich auf „harte“ Sicherheitsmaßnahmen zu berufen, die wir glücklicherweise finanzieren können, aber es ist nichts „weiches“ daran, sich mit Verhandlungen für die Beendigung eines verheerenden Krieges und der drohenden Vernichtung einzusetzen.

Verhandlungen sind wesentlich billiger als militärische Antworten, die nie eine nachhaltige Lösung darstellen. Aber auch sie sind nicht umsonst und erfordern Investitionen. Wenn nur ein Prozent der 100 Milliarden Euro, die in Deutschland für Verteidigungsinvestitionen vorgesehen sind, in Friedensbemühungen fließen würden, wäre dies ein wesentlicher Beitrag zu Sicherheit und Stabilität – in Europa und darüber hinaus.

Die anderen großen Krisen existieren weiter

Wir müssen aus der Vergangenheit lernen. Nach dem 11. September 2001, einer Krise fast vergleichbaren Ausmaßes wie in der Ukraine, lenkten einige Länder wie die USA und Großbritannien ihre Aufmerksamkeit von vielen Themen ab und konzentrierten sich übermäßig auf Afghanistan, den Irak und den fatalerweise so genannten „Krieg gegen den Terror“. Das hat nicht gut geendet.

Trotz des Ausmaßes der russischen Aggression und der notwendigen Reaktion darauf wäre es ein schrecklicher Fehler, jetzt die Aufmerksamkeit von anderen großen Krisen abzuwenden. Die Vereinten Nationen mussten vor Kurzem einige der größten humanitären Appelle ihrer Geschichte für Afghanistan, Äthiopien und Jemen starten. Alle drei stehen im Zusammenhang mit den Konflikten, die in diesen Ländern herrschen, und es ist dringend notwendig, die Bestrebungen nach ihrer diplomatischen Lösung zu verstärken. Deutschland gehört zu den großzügigsten Gebern sowohl bei den internationalen Hilfsmaßnahmen als auch bei den friedensstiftenden Aktivitäten in allen drei Ländern und es ist wichtig, dass dies so bleibt.

Hungersnot in Afghanistan

Doch während in Äthiopien und im Jemen die Ursache für die Hungersnöte in den Aktivitäten der Kriegsparteien liegt, ist sie in Afghanistan eine andere. Dort ist die Politik der westlichen Regierungen die treibende Kraft für den wahrscheinlich wieder aufflammenden Konflikt und die drohende humanitäre Katastrophe. Als die Taliban im August letzten Jahres den Sieg davontrugen und die Länder demütigten, die die vorherige afghanische Regierung mit Dutzenden von Milliarden Euro unterstützt hatten, reagierten diese, indem sie die direkte finanzielle Unterstützung einstellten, von der die afghanische Staatsführung und das Sozialwesen abhängen. Sie verhängten verheerende Sanktionen, die die meisten wirtschaftlichen Aktivitäten verhindern. Und die USA macht gar Anstalten, die verbleibenden Staatsreserven Afghanistans in Höhe von einigen Milliarden Dollar zu stehlen.

Es braucht nicht viel, um sich vorzustellen, was die Folgen sein könnte. Wenn die USA und ihre europäischen Verbündeten ihren Kurs nicht ändern und einen durch ihre eigene Politik verursachten Staatszerfall verhindern, besteht die reale Gefahr, dass in Afghanistan erneut ein Konflikt ausbricht, begleitet von einer Hungersnot. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen könnte das in den kommenden Monaten eine Million Kinder in den Hungertod treiben. Mehrere Millionen Afghanen müssten dann aus ihrem Land in Richtung Westen fliehen.

Zu wenig Gelder für Jemen

Ein weiterer Konflikt, der verstärkte Aufmerksamkeit verdient, betrifft Äthiopien. In diesem Land mit 110 Millionen Einwohnern herrscht seit 16 Monaten ein verheerender Krieg, der tausenden Menschen das Leben gekostet, Millionen vertrieben und eine humanitäre Katastrophe ausgelöst hat. Auch wenn es in den letzten Wochen einige ermutigende politische Entwicklungen gegeben hat, zu denen die internationale Gemeinschaft, darunter auch Deutschland, beigetragen hat, müssen wir größte Anstrengungen unternehmen, um ein erneutes Aufflammen der Gewalt zu verhindern, dessen Auswirkungen weit über die ostafrikanische Region hinausgehen.

Der Nahe Osten ist weiterhin Schauplatz zahlreicher Konflikte und wirtschaftlicher Fragilität, u.a. in Jemen, Syrien, Libanon und Libyen. Bei der von den UN organisierten Geberkonferenz für Jemen Mitte März wurde dem Land trotz der anhaltenden humanitären Krise, die zusätzlich durch den Krieg in der Ukraine und steigende Gaspreise verstärkt wird, nur ein Drittel der erhofften Spendensumme zugesagt. Es ist sowohl moralisch als auch aus Eigeninteresse geboten, sich für die Lösung solcher Krisen einzusetzen und humanitäre Hilfe zu leisten. Berlin hat dazu einen großen Beitrag geleistet – sowohl finanziell als auch politisch –, unter anderem durch die Unterstützung von Friedensorganisationen.

Die gegenwärtige Bedrohung der europäischen Sicherheit – so groß wie seit der Berliner Luftbrücke 1948 nicht mehr – erfordert natürlich eine erhebliche Umleitung der verfügbaren Mittel und der politischen Aufmerksamkeit. Doch wenn Deutschland und andere europäische Länder die Krisen, die sich außerhalb Europas abspielen, ignorieren, würde dies die Herausforderung, die der schreckliche Angriff auf die Ukraine sowohl für unsere Werte als auch für unsere Interessen darstellt, nur noch vergrößern.

Andrew Gilmour ist ehemaliger stellvertretender UN-Generalsekretär für Menschenrechte und Geschäftsführer der Berghof Foundation. Die Friedensorganisation mit Sitz in Berlin ist in den genannten Krisengebieten aktiv.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



Most Read

2024-09-20 06:38:14