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Frieden | Streit: Gibt es nur noch Lumpenpazifismus?


Link [2022-06-11 14:42:41]



Der russische Angriff auf die Ukraine löst Angst und Entsetzen aus. Wie gehen wir damit um? Elke Schmitter und Olaf Müller hinterfragen ihren Pazifismus

Als Elke Schmitter für dieses Gespräch angefragt wurde, verband sie ihre freudige Zustimmung mit dem Wunsch, bei diesem Thema kein allzu klassisches Streitgespräch zu führen. Olaf Müller schloss sich diesem Wunsch gerne an.

der Freitag: Wie also einsteigen?

Elke Schmitter: Mein Vorschlag: sagen, wer wir sind, wenn wir vom Krieg sprechen, auch wenn es der Krieg anderer ist. Ich komme aus einer Familie, in der nur wenige Geschichten über den Zweiten Weltkrieg erzählt wurden. Beide Großväter waren nicht Soldat, mein Vater nur in der letzten Kriegswoche an der Front. Die damit einhergehenden Erfahrungen hat er verkapselt, sie wurden aus dem Familienleben ausgespart. Gleichwohl, oder auch deshalb, lösen Bilder der Gewalt bei mir tiefes Entsetzen aus. Ich gucke fast nichts, sondern lese vor allem über den Krieg.

Olaf Müller: Geht mir genauso, ich bin ein Leser, kein Bildbetrachter. Zur Familiengeschichte: Mein Großvater mütterlicherseits ist noch in den letzten Wochen des Kriegs verheizt worden. Der andere Großvater war ein höherer Offizier der Wehrmacht, er kam heil aus dem Krieg nach Dresden zurück. Mein Vater wurde als 17-jähriger Schüler wegen seines Protests gegen den Stalinismus in der DDR verhaftet, von ukrainischen Offizieren der Roten Armee verhört und kam nach Bautzen, wo das Wachpersonal zum Teil noch aus der Nazi-Zeit stammte, Folter, Todeszelle. Nach anderthalb Jahren wurde er von den Amerikanern freigekauft. Wegen alledem sitzt mir eine Angst vor Krieg, vor der Sowjetunion, vor Russland, vor der Diktatur in den Knochen.

Als Pazifist haben Sie dann bestimmt verweigert.

Müller: Nein, ich habe 1985/86 als Soldat meinen Wehrdienst geleistet, weil ich die damals für eine Verweigerung verlangten Gewissensgründe nicht vortäuschen wollte: Ich halte es nicht per se für moralisch falsch, sich mit der Waffe gegen einen Angreifer zu verteidigen. Allerdings habe ich nachträglich verweigert, mit einer philosophischen Argumentation, worin verantwortungsethische Abwägungen zentral waren. Diese Haltung muss sich in jeder Krise neu an den Fakten messen lassen. In der Tat hat meine Analyse bei jeder Kriegsintervention, die wir – der Westen – verantwortet haben, herausgestellt: Die kriegerische Option war moralisch unangemessen. Das gilt für die beiden Irak-Kriege, es gilt für den Kosovokrieg, es gilt für Libyen und Afghanistan.

Wir wollten sagen, von welcher Position aus wir sprechen. Wir tun es aus der Zuschauerposition.

Schmitter: Ja. Wir sind Zuschauer, wir sind buchstäblich unbetroffen, aber nicht unbeteiligt. Weder als Bürger eines Landes, das Einfluss nimmt, noch als Personen, die Anteil nehmen. Wir sind Laien des Krieges, wir sprechen ohne diese Erfahrung. Paradoxerweise fühlen wir uns aber als Experten, weil Emotionen wie Angst, Ohnmacht und Abscheu, wie sie die Nachrichten und Bilder aufrufen, uns natürlich geläufig sind.

Sind wir auch Experten im Umgang damit?

Schmitter: Herr Müller und ich halten ja beide offenbar Diät bei den Bildern. Und ich habe mich ja als Angsthase geoutet.

Müller: Same here.

Schmitter: Allerdings sind mir auch als Angsthase Vergeltungswünsche nicht fremd, Identifikation mit den Angegriffenen, die sich wehren. Bei Meldungen von Fortschritten der Ukraine muss ich mir ins Bewusstsein rufen, dass da russische Soldaten sterben, die nicht freiwillig in den Krieg gezogen sind. Diese Disziplinierung der Affekte würde ich aber nicht von jemandem erwarten, der unmittelbar betroffen ist.

Müller: Als ehemaliger Soldat bin ich – unter anderem – bestürzt über die russischen Jungs, die in hoher Zahl krepiert sind. Sie waren Täter und wurden zu Opfern einer gnadenlosen russischen Befehlsmaschinerie. Demgegenüber muss ich gestehen, dass ich mich freue, wenn ich lese, wie viele russische Generäle bereits gefallen sind. Stellt euch vor, es ist Krieg, und die Generäle sind weg! Und obwohl ich Pazifist bin, bewundere ich den Mut, die Kampfmoral und auch den Witz der ukrainischen Seite stark genug, um mich in einen Geisteszustand zu versetzen, in dem ich das heroisieren könnte.

Was hindert Sie daran?

Müller: Der Preis an Menschenleben, den dieser berechtigte Verteidigungskrieg fordert! Wir haben noch keine belastbaren Zahlen, wissen aber, dass allein in Mariupol schon vor drei, vier Wochen über 20.000 tote Zivilisten gemeldet worden sind. Das ein entsetzlicher Leichenberg. Wie soll man das gegen staatliche Unabhängigkeit, gegen Selbstbestimmung und Demokratie verrechnen?

Schmitter: Aber was folgt denn daraus?

Müller: Vielleicht wäre es besser gewesen, die Stadt kampflos zu übergeben?

Schmitter: Heißt das, man übergibt quasi den Schlüssel? Und die russische Treuhand übernimmt?

Müller: Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen als das, was dort bislang geschehen ist. Die Stadt liegt in Schutt und Asche, ihre Toten sind für immer tot.

Schmitter: Am Anfang des Kriegs sah man Handy-Videos von ukrainischen Frauen, die russische Soldaten ausgeschimpft haben: Geh nach Hause, ich könnte deine Oma sein ... Und die haben verwirrt dagestanden und sich zurückgezogen. Aber es gibt diese Frauen nicht mehr. Und es gibt diese Soldaten nicht mehr. Das elementare Vertrauen, das aus diesen Szenen spricht – dass die Russen wehrlose Zivilisten nicht töten, dass die russischen Soldaten nicht in einen Hinterhalt geraten –, ist kaputt. Wenn jetzt eine Stadt kampflos übergeben wird, bedeutet das nicht, dass die Gewalt zu Ende ist.

Müller: Damit berühren wir einen Dissens zwischen Pazifisten und ihren Gegnern, der in die Tiefe geht. Man kann fragen, ob eine sofortige Kapitulation die bessere Option gewesen wäre. Die meisten Menschen, auch die meisten Soldaten, auch die meisten russischen Soldaten, sind von Hause aus keine Monstren; sie werden es unter Beschuss. Eine solche Entwicklung vom normalen deutschen Abiturienten bis zum Kriegsverbrecher lässt sich in den Feldpostbriefen nachlesen, die Walter Kempowski in seinem Werk Das Echolot dokumentiert hat.

Schmitter: Kein Widerspruch; wenn wir drei Wochen lang in einem Panzer sitzen, frieren, schlecht ernährt sind, beschossen werden, drehen wir alle durch.

Müller: Da haben Sie den Grund, dessentwegen ich der Meinung zuneige: In dem Augenblick, in dem ein Krieg losgeht und sich die eine Seite – berechtigterweise! – mit starken Waffen verteidigt, droht die Gefahr der massiven Verrohung aufseiten der Angreifer.

Zur Person

Foto: privat

Elke Schmitter, 1961 in Krefeld geboren, studierte Philosophie in München. Von 1992 bis 1994 war Schmitter Chefredakteurin der taz, als Autorin schrieb sie für die Zeit und den Spiegel. Sie veröffentlichte mehrere Romane, zuletzt Inneres Wetter im Verlag C. H. Beck

Schmitter: Aber es macht einen Unterschied, und zwar auch für den Grad der Verrohung, ob eine Armee geschickt wird, die aus verwirrten jungen Männern besteht, oder eine aus kampferprobten Leuten, denen gesagt wird: Tobt eure sadistischen Impulse aus.

Müller: Ist das gesagt worden?

Schmitter: Wenn man die Kadyrow-Truppe holt, gibt man ein Signal: Jetzt kommt nicht mehr der 18-jährige Bair aus Burjatien, der etwas ratlos in der Gegend steht. Jetzt kommen Kämpfer, die zu allem bereit sind. Das Ganze passiert aber auf dem Territorium der Ukraine, und das bedeutet, die Ukraine kämpft mit Soldaten, die in eine Zivilgesellschaft eingebunden sind, von der sie unterstützt, korrigiert, ermutigt werden. Das ist ein anderes soziales Geschehen. Die Verrohung ist nicht notwendigerweise symmetrisch.

Müller: Da haben Sie recht.

Schmitter: Okay, die Frage ist nun aber, wie kann man Gewalt, wenn man sie nicht verhindern kann, so doch reduzieren?

Wer kann es? Es heißt ja, nur die Ukraine selbst soll das entscheiden. Wir haben nicht das Recht dazu. Aber möglicherweise haben wir ein Interesse daran, dass die Gewalt reduziert wird.

Müller: Wir müssen uns ehrlicherweise fragen, wo die Interessen zwischen uns und den Ukrainern divergieren. Die offizielle ukrainische Verteidigungsstrategie spielt in unserer öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle. Sie wurde ein Jahr vor Kriegsbeginn formuliert und umfasst vier Stufen der Verteidigung im Fall eines Angriffs. Zuerst soll die Armee Widerstand leisten; in der Zwischenzeit werden die Reservisten mobilisiert und treten – zweitens – in den Kampf ein, um den hinhaltenden Widerstand zu verstärken. Dritte Stufe: Die NATO greift in den Krieg ein; vierte Stufe: Sieg über Russland. So weit die offizielle Strategie der Ukraine. Selbstverständlich liegt es im Interesse der Ukraine, dass die NATO an ihrer Seite mitkämpft. Aber das ist eindeutig nicht in unserem Interesse.

Ist das allen Beteiligten klar?

Müller: Ich glaube schon, dass dieser Gegensatz der Interessen klar ist. Aber was folgt daraus? Wir stehen vor einer ungeheuer schwierigen Gratwanderung: Wir wollen die Ukraine einerseits so sehr unterstützen, dass sie in eine starke Verhandlungsposition kommt; andererseits müssen wir um alles in der Welt vermeiden, in den Krieg hineingezogen zu werden – eine Eskalation in den Atomkrieg darf es nicht geben.

Gelingt diese Gratwanderung?

Müller: Genau an diesem Punkt bin ich als Erkenntnistheoretiker beunruhigt. Wie lausig waren unsere Prognosen bei den früheren Kriegen! Ich erinnere nur an Afghanistan; Jahr für Jahr gab es einen Fortschrittsbericht. Und kurz nach dem Abzug des Westens hat sich dann herausgestellt, dass so gut wie alle Prognosen zur Lage in Afghanistan das reinste Wunschdenken waren. Warum soll es diesmal anders sein? Der augenblickliche Krieg ist um Dimensionen komplexer, und die Gefahren sind weit gravierender.

Schmitter: Bei Afghanistan widerspreche ich. Es gab viele Berichte in den Medien über die Ineffizienz dieses Einsatzes. Da war kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsproblem, aus politischen Gründen.

Was wäre heute gefährlich?

Müller: Johnson hat angekündigt, den Ukrainern Langstreckenraketen zu liefern. Wenn es dazu käme, könnte leicht eine Situation entstehen, in der die Ukrainer stark in der Defensive sind und sich unter dem verbrecherischen Beschuss durch Russland sagen: Jetzt drehen wir den Spieß um. Das ist in diesem Krieg ihr gutes Recht, sie sind die Angegriffenen. Im Ergebnis fliegt dann eine britische Langstreckenrakete nach Moskau. Ich möchte nicht wissen, was dann geschieht! Werden sich die Russen mit einem Angriff auf London revanchieren? Die Waffenlieferungen können also schnell zu gefährlich werden. Das bedeutet nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen sollten. Als Pazifist habe ich große Sympathie dafür, maximale Sanktionen zu verhängen.

Sie wollen nichts mit dem alten Gesinnungspazifismus zu tun haben. Der ist ja durch tiefe Skepsis gegenüber den USA geprägt. Aber ist die nicht gerade angebracht, denn ohne die USA könnte Johnson das nicht ankündigen?

Müller: Ohne mich. Ich habe ein riesiges Misstrauen gegenüber Russland. Im Vergleich dazu habe ich – bei aller Detailkritik – kaum Misstrauen gegenüber den USA.

Schmitter: Zur Belastbarkeit von Prognosen: Hieß es nicht zu Anfang, die Ukraine habe letzten Endes keine Chance? Jetzt sieht das anders aus. Das heißt, das Argument „Wenn wir schwere Waffen liefern, eskalieren wir einen Konflikt oder verlängern das Leid“ macht keinen Sinn mehr. Die Logik müsste nun sein: Whatever it takes – damit es sich nicht in die Länge zieht.

Foto: Matthias Heyde

Müller: Hätten die Russen keine Atomwaffen, wäre ich auf Ihrer Seite. Aber die Atomkriegsgefahr ist real. Und es waren Philosophen wie Günther Anders, Bertrand Russell und Ernst Tugendhat, die immer wieder versucht haben, diese Gefahr ins Bewusstsein der Menschen zu bringen.

Schmitter: Was mich betrifft: mit gemischtem Erfolg. Weil Günther Anders zum Beispiel sehr gut erklärt, warum man sich die atomare Vernichtung nicht vorstellen, warum man sie nicht denken will. Sie ist zu groß. Nun ist die Frage: Ist das eine Erleichterung? Macht es das Denken rationaler oder irrationaler? Und ich will dieses Denken zwar nicht diffamieren, aber für mich ist die 1938-Analogie überzeugend: dass wir es also tatsächlich mit einem „real agierenden Bösen“, einem neuen Faschismus zu tun haben. Und dass er nur militärisch gestoppt werden kann.

Müller: Wenn wir den Krieg durch massive Waffenlieferungen verkürzen, steigt die Wahrscheinlichkeit einer unkontrollierbaren Eskalation. Deswegen halte ich es für keinen gangbaren Weg, die Ukraine so stark zu unterstützen, dass Russland gedemütigt wird.

Demzufolge müsste man den Konflikt quasi einfrieren?

Müller: Ja, das wäre wohl in unserem Interesse, so brutal es auch klingen mag. Also den Konflikt in eine ähnliche Situation zu verwandeln wie diejenige, in der sich die Sowjets nach ihrem Einmarsch 1979 in Afghanistan wiederfanden: Sie haben sich dort so lange abgekämpft, bis sie einsehen mussten, dass sie nicht erwünscht sind; nicht viel später sank die sowjetische Diktatur dann entkräftet in sich zusammen.

Ich staune, wie wenig die Eskalationsgefahr in unseren Medien diskutiert wird. Vielleicht hängt es damit zusammen: Keine ukrainische Stimme warnt vor einer unkontrollierbaren Eskalation. Kann sie wohl auch nicht. Aber das heißt ja nicht, dass die Gefahr nicht real ist.

Schmitter: Ich möchte Herfried Münkler mit einer wunderbaren Formulierung zitieren: Die Briten reagieren auf die russische Atomrhetorik „mit mürrischer Indifferenz“, das spricht mir aus der Seele. Kann natürlich auch Abwehr sein, psychoanalytisch betrachtet.

Vielleicht reicht es ja, Ambivalenzen auszuhalten. Aber kann die Politik mit Ambivalenzen umgehen?

Schmitter: Da habe ich großes Vertrauen. Diese Aktenschrank-Rhetorik von Scholz finde ich nicht verkehrt, weil sie performativ zum Ausdruck bringt, dass es keine eindeutig sichere Haltung gibt, sondern dass die ganze Zeit abgewogen werden muss.

Aber mit Pazifismus hat das nichts mehr zu tun, oder?

Schmitter: Wenn wir den Pazifismus ernst nehmen, muss man einen Unterschied benennen: Der gewaltfreie Widerstand ist in sozialen Situationen, in denen die andere Partei über Beschämung in die Knie gezwungen werden kann, eine sinnvolle Aktion und die bessere, immer der Gewalt vorzuziehen. Siehe Südafrika, siehe Indien, siehe die Schwarze Zivilbevölkerung in den USA. Aber die andere Seite muss diese moralischen Knie eben auch haben.

Der Pazifismus eines Olaf Müller leitet sich doch primär von der Atomkriegsgefahr ab ...

Schmitter: Wie geht man mit dieser Atomfrage um? Ihre Position ist: Da ist eine reale Angst, und die muss man aufnehmen und enttabuisieren. Auf der russischen Seite ist es längst so weit. Zur besten Sendezeit unterhalten sich Leute im Fernsehen darüber, wie viele Minuten es dauert, Paris, Berlin und Warschau auszulöschen. Und die Warschauer Bürger wissen furchtbar genau, wovon die Rede ist. Wenn diese Bürger nun auf diesen Diskurs nicht eingehen, dann frage ich mich, warum Deutschland als einziges Land in Europa das mit großem Engagement tut.

Müller: Wer aus anderen Ländern zu uns kommt, den macht es fassungslos, was für ein fanatischer Sicherheitsdrang bei uns herrscht, eine Art Vollkasko-Mentalität. Ich muss zugeben, dazu stehe ich; safety first. Meine polnische Frau sagt immer wieder: Let’s risk it! Wenn ich das höre, gefriert mir jedes Mal das Blut in den Adern – ein interessantes Gefühl … Also bitte, mir fährt ein Schreck in die Glieder, wenn ich im FAZ-Wirtschaftsteil lesen muss, dass in die aktuelle Verschiebung der und der Aktienkurse eine Eskalation des Krieges schon eingepreist ist.

Den Schrecken sollen wir teilen?

Müller: Ich sehe meine Rolle als Pazifist darin, hörbar und ruhig zu sagen, dass ich Angst habe. Dafür werde ich beschimpft. Aber ich weiß, dass es einen rationalen Grund für meine Angst gibt. Nur ein Indiz dafür: Dass wir hier überhaupt sitzen können, verdanken wir einzig und allein dem Nachgeben der sowjetischen Seite während der Kuba-Krise. Auch in der Zwischenzeit gab es immer wieder Kipp-Punkte, etwa im September 1983, als der sowjetische Oberstleutnant Petrow auf seinem Bildschirm einen Angriff amerikanischer Atomraketen sah, aber nicht auf den Knopf gedrückt hat, obwohl genau das von den Befehlen vorgesehen war. Auch jetzt sitzen Militärs vor ihren Bildschirmen; seit Kriegsbeginn ist auf allen Seiten die Nervosität in die Höhe geschnellt, und die Vorwarnzeiten sind nicht länger geworden. Man kann nicht einfach den Kopf in den Sand stecken und sagen: Let’s not talk about it.

Schmitter: Jetzt sind wir doch am entscheidenden Punkt. In Deutschland fällt die Vorstellung offenbar schwer, dass man sich verteidigt, auch wenn die militärischen Chancen gering sind. Dass man gegen einen übermächtigen Aggressor, gegen das Unrecht den Kampf aufnimmt. Ein bemerkenswerter Mangel an Vorstellungskraft einerseits, eine große Vorstellungsbereitschaft andererseits: nämlich was die atomare Bedrohung betrifft. Wir sind uns einig, dass die atomare Bedrohung logisch nicht ausgeschlossen werden kann. Aber auch darin, dass in Deutschland – aus Gründen, die in der Vergangenheit liegen – diese Möglichkeit ernster genommen wird als in anderen europäischen Ländern. Da herrscht, gerade bei den unmittelbar bedrohten Nachbarn der Ukraine, die Haltung vor: Diese Angst ermächtigt nicht, sie lähmt. Sie erfüllt die Bedrohungslogik des Aggressors, und sich ihr zu unterwerfen heißt schon, zu kapitulieren. Erst gewissermaßen im Sprachspiel, dann in der Realität. Macht Sie diese exklusive „German Angst“ nicht misstrauisch sich selbst gegenüber?

Müller: Zugegebenermaßen überrascht mich Ihre erfrischend robuste Art des Umgangs mit dieser Angst. Ich muss nachdenken …

Schmitter: Kann man überhaupt für andere Angst haben? Oder nicht nur für die, die einem nahe sind? Vielleicht liegt hier das Unbehagen in der Debatte. Wir bringen Mitgefühl für die Ukrainer auf, aber Angst haben wir um uns selbst. Sie ist kein ethisches Phänomen, sondern ein psychologisches, abhängig von zufälligen Faktoren wie der geografischen Lage, der politischen Vergangenheit, den Diskursprämien für bestimmte Äußerungen und so weiter. Ich muss jedenfalls gestehen, dass mir die Angst um die Menschheit suspekt erscheint.

Müller: Das kann ich nachvollziehen. Ich habe konkret Angst um mich und die Meinen. Ich habe Angst um Berlin: die Stadt, in der wir leben. Hört sich das zu selbstbezogen an?

Schmitter: Für mich: nicht als Gefühl, aber als Argument.

Frau Schmitter, wenn Sie sich für eine der beiden kursierenden Formeln „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Auschwitz“ entscheiden müssten, dann würden Sie aktuell vermutlich „Nie wieder Auschwitz“ nehmen?

Schmitter: Ja. Wenn ich sie verstehe als die Frage, ob ein militärisches Eingreifen gerecht sein kann. Allerdings: Srebrenica, Sarajevo – und inzwischen Butcha – genügen hier ja als Referenzen.

Und Sie, Herr Müller?

Müller: Ich würde „Nie wieder Hiroshima“ wählen.

Zur Person

Foto: Matthias Heyde

Olaf Müller, geboren 1966, studierte Mathematik und Philosophie. Seit 2003 lehrt er Philosophie mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei Wallstein erschien 2021 das Buch Ultraviolett. Johann Wilhelm Ritters Werk und Goethes Beitrag

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