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Frieden | So könnte der Ukraine-Krieg enden – oder weitergehen


Link [2022-04-01 15:54:58]



Anerkennung der Krim, Neutralität der Ukraine, Festsetzen Russlands in bestimmten Gebieten – vieles ist denkbar. Doch je näher sich eine Seite dem militärischen Sieg fühlt, desto unwahrscheinlicher ist ein Waffenstillstand

Positionskämpfe, Raketenangriffe, Artillerieduelle, kaum veränderte Fronten dominieren den Kriegsverlauf in der Ukraine. Sollte sich zusehends ein militärisches Patt andeuten, rücken zwei Szenarien in den Vordergrund, um den Konflikt zu beenden oder einzufrieren. Sollte sich keine diplomatische Lösung ergeben, wäre als eine Variante denkbar, dass sich russische Truppen in den bereits genommenen Gebieten verteidigungs- und verwaltungstechnisch einrichten. Seit dem 25. März werden an besetzten Orten schrittweise „militärisch-zivile Administrationen“ installiert, um das Alltagsleben zu verwalten. In der Provinz Cherson im Süden etwa wird ab April der russische Rubel eingeführt, der parallel zur ukrainischen Hrywnja im Umlauf sein soll. Auch Löhne und Renten werden von Moskau in den besetzten Gebieten bereits ausgezahlt, ebenfalls in Rubel. Ukrainische Landwirte sind aufgerufen, sich bei russischen Anbietern Düngemittel und Technik zu beschaffen, um im Sommer die Ernte einzubringen und eine befürchtete Nahrungsmittelkrise zu vermeiden. Dazu werden weite ländliche Gebiete bereits von russischen Räumkommandos entmint, was schwerlich geschehen würde, sollte ein baldiger Abzug anstehen.

Entscheidend dürfte für Moskau die Kontrolle des Nord-Krim-Kanals sein, der das Süßwasser des Dnjeprs auf die Krim leitet, was essenziell für eine stabile Wasserversorgung der Halbinsel ist. Ukrainische Behörden hatten die Wasserzufuhr im Jahr 2014 nach der Annexion gekappt. Nun sind, nach der Eroberung des Kanals vor drei Wochen, die Wasserstauanlagen der Krim erstmals seit Langem wieder vollständig gefüllt. Daher wird die direkte oder indirekte Kontrolle dieses Kanals für Moskau eines der wichtigsten Ziele für jede Art russisch-ukrainischer Nachkriegsordnung sein.

Beide sollen Sieger sein

Ein zweites Szenario: Es gibt einen Konsens gemäß dem 15-Punkte-Friedensplan, der in Teilen bereits durchgesickert ist. Dieses Tableau soll – und das ist wohl die wichtigste Voraussetzung, um es erfolgreich umzusetzen – beiden Konfliktparteien die Möglichkeit geben, sich als Sieger zu präsentieren. Die Regierung Putin könnte erklären, ihre entscheidenden Forderungen seien weitgehend erfüllt, da die Ukraine auf einen NATO-Beitritt verzichtet und militärische Neutralität zusichert, indem Rahmenbedingungen für ihre Streitkräfte gelten und dauerhaft auf ausländische Basen in der Ukraine verzichtet wird. Zudem würden die russische Hoheit über die Krim sowie die Unabhängigkeit der „Donbass-Republiken“ anerkannt. Kiew könnte sich hingegen als Sieger präsentieren, weil sich die russischen Truppen laut Friedensplan auf die Linie vom 24. Februar zurückziehen, dem Tag des Invasionsbeginns. Die Abgabe der Krim und des Donbass könnte in diesem Fall als Minimalverlust hingestellt werden, schließlich sei Kiew erfolgreich verteidigt worden. Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte zuletzt, dass jeder Ausgang, bei dem die Ukraine nicht komplett besetzt werde, als Sieg zu bewerten sei.

Dennoch bleibt unklar, wie ernsthaft mit dem Willen zum Kompromiss momentan verhandelt wird. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, mit den Gesprächen nur Zeit für den nächsten militärischen Vorstoß oder Umgruppierungen gewinnen zu wollen. Fest steht, je mehr sich eine Kriegspartei als baldiger Gewinner sieht, desto stärker sinkt die Kompromissbereitschaft. Die ukrainische Seite hat bereits wissen lassen, dass Konzessionen wie Neutralität oder ein De-facto-Verzicht auf die Krim und den Donbass nur per Volksentscheid angenommen werden könnten. Nachdem Präsident Selenskyj Anfang März seine grundsätzliche Bereitschaft signalisiert hatte, über einen neuen Status der Krim oder des Donbass zu reden, relativierte er dies später mit dem Hinweis: Was ausgehandelt werde, müsse durch ein Plebiszit bestätigt sein. Wird ein Friedensplan an ein solches Votum gebunden, ist er a priori zum Scheitern verurteilt. Umfragen in der ukrainischen Bevölkerung aus der ersten Märzwoche ergaben, dass ein überwältigender Teil der Ukrainer mit einem militärischen Sieg rechnet. Über 80 Prozent zeigten sich davon überzeugt, dass ihre Armee die russische Invasion zurückschlagen werde. Wie sollten sie verstehen, dass die in einem 15-Punkte-Plan enthaltenen Zugeständnisse angebracht sind – und dies auch noch per Referendum akzeptieren?

Auch verwaltungstechnisch erscheint eine solche Abstimmung kaum praktikabel. Rund ein Drittel der Ukraine ist besetzt, in vielen Landesteilen toben Kämpfe – ein Referendum ließe sich demnach nur in einem Teil des Landes abhalten, was seine Aussagekraft erheblich entkräften würde. Dass Selenskyj einerseits Gesprächsbereitschaft proklamiert, andererseits einen Volksentscheid will, ist Ausdruck seines außen- und innenpolitischen Taktierens und der Umstände, unter denen gerade sondiert wird. Vorerst jedenfalls scheint ein Verhandlungserfolg noch in weiter Ferne zu liegen.

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