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Frankreich | Stichwahl: Sozialpolitische Bauchtänze


Link [2022-04-21 02:13:44]



Emmanuel Macron oder Marine Le Pen? In der Stichwahl umwerben beide die Wähler des mächtigen linken Blocks, der in fast allen Großstädten die meisten Stimmen auf sich vereint

Jean-Luc Mélenchon, dem Kandidaten von La France Insoumise (LFI), wurden noch kurz vor dem ersten Wahlgang am 10. April höchstens 18 Prozent zugestanden. Mit 22 Prozent landete er als dritte Kraft gerade einmal ein Prozent hinter Marine Le Pen. Die nach dieser Wahlrunde nunmehr als linke Splitterparteien zu betrachtenden Grünen, Kommunisten und Sozialisten hätten rein rechnerisch diese Differenz spielend füllen können. Ihr Festhalten an eigenen Bewerbern hat ihnen viel Groll in weiten Teilen der französischen Linken eingebracht.

Seit Macron die Präsidentschaft übernahm, war die soziale Frage stets präsent. Umso mehr müssen nun der Präsident und Le Pen für Runde zwei Wähler des mächtigen linken Blocks auf ihre Seite ziehen. In Sachen Glaubwürdigkeit hat dabei der Amtsinhaber gewiss den schwierigeren Part. Im Grunde kann er nur darauf hoffen, dass das faschistoide Gespenst Le Pen ein weiteres Mal Wirkung zeigt. Er hat sich einfach mit seiner Klassenverachtung den unteren Schichten gegenüber zu sehr desavouiert und lässt es daher im Wahlkampf an opportunistischen Peinlichkeiten nicht fehlen. Was sie einbringen, ist schwer zu beurteilen. Aus den Resten der Sozialisten und Grünen wie den Anhängern der konservativen Kandidatin Valérie Pécresse (Les Républicains) werden ihm sicher Wähler zulaufen, die mit Le Pen nichts zu tun haben wollen.

Le Pens Wählerschaft besteht vielfach aus deklassierten, sich verlassen fühlenden Menschen, die demagogischen sozialen Beteuerungen Glauben schenken. Wie es die Rechtsextremen immer gehalten haben, verbergen sie die ihnen wichtige Unantastbarkeit der sozialen Verhältnisse hinter rassistischen Haltet-den-Immigranten-Parolen. Le Pen kann zudem auf Unterstützung durch die sieben Prozent Wähler Éric Zemmours rechnen, der – verblüffenderweise oder nicht – in den Reichen-Ghettos des Pariser Westens und an der Côte d’Azur am erfolgreichsten war. Vermutlich erschien dieser Klientel eine zu enge Anbindung an die „Prolls“ von Madame Le Pen zu unappetitlich.

Ob sie Wähler aus dem Pool von La France Insoumise gewinnen kann, ist schwer zu beurteilen. Es gab in diesem Lager wie schon 2017 eine Umfrage mit den Optionen: ungültig wählen, nicht zur Wahl gehen oder Macron wählen. Bereits am Wahlabend fand sich die Option Le Pen klar ausgeschlossen. Andererseits hat Macron fünf Jahre lang regiert, man kennt seinem Hochmut und Zynismus. Vielfach gärt Hass gegen ihn und gegen sein Umfeld. Manche sagen, mit Le Pen könne man es einmal versuchen.

Unübertroffene Wahlkampfthemen in Frankreich: Rente und Lebensarbeitszeit

La France Insoumise jedenfalls verweigert jegliche Verhandlungen mit Emmanuel Macron. Es gibt lediglich die Aufforderung, er möge Angebote an das Volk offen auf den Tisch legen und die feste Zusage geben, eine Rentenreform von einem Referendum abhängig zu machen. Das wäre Macron allemal zu empfehlen, denn selbst die stark sozialdemokratisch inspirierte CFDT wird in dieser Hinsicht nicht einfach nachgeben. Alle anderen Gewerkschaften stehen jetzt schon Gewehr bei Fuß in Erwartung eines großen Gefechts. Macron will die Rente ab 65 Jahren durchsetzen.

Das Thema Arbeitszeit war in Frankreich immer schon ein Herzstück sozialer Kämpfe, der um die Rente und die Lebensarbeitszeit aber blieb stets unübertroffen. Allein die sozial bedingte Staffelung der Lebenserwartung weist grässliche Details auf: Viele der äußerst prekär Beschäftigten erleben nicht einmal das 62. Lebensjahr und damit den jetzigen Renteneintritt. Und wenn, dann in schlechter Gesundheit. Dass Arbeiter in der Kanalisation im Schnitt 17 Jahre früher sterben, verglichen mit den „normal“ Arbeitenden, das hat nicht nur die Frage nach der Schwere von Arbeit, sondern dem Gleichheitsgrundsatz der Republik ins Bewusstsein gerückt.

Das Gros der LFI-Wähler dürfte auch deshalb schwer von Macron zu überzeugen sein, weil sie eine neue Stärke im „roten Gürtel“ von Paris und bei Weitem nicht nur in dieser Banlieue mit 60-Prozent-Ergebnissen für Mélenchon verkörpern. Hinzu kommt der massive Rückhalt in Quartieren, deren größtenteils muslimische Bewohner sich erstmals so intensiv an demokratischen Wahlen beteiligt haben, auch dank des Aufrufs muslimischer Bürgermeister wie in Stains und Trappes. LFI hat in fast allen Großstädten, besonders denen mit Universitäten, die Pole-Position erobert. Der Trend von 2017, dass sich hoch qualifizierte Wähler, unter ihnen sehr viele junge Leute, mit Prekarisierten aller Art verbünden, ist 2022 übertroffen worden. Insofern hat La France Insoumise bei den Parlamentswahlen Mitte Juni gute Chancen, auf mehr Präsenz in der Nationalversammlung zu setzen, um dem gewählten Präsidenten Paroli zu bieten. Mélenchon wird die Galionsfigur sein.

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