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Frankreich | Mélenchon en Marche


Link [2022-04-07 10:33:46]



Die Linke in Frankreich hat plötzlich eine Chance, in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl zu kommen – weil sie geeint auftritt

Noch hoffen viele Franzosen (und viele fürchten es), dass der linke Bewerber Jean-Luc Mélenchon, Kandidat von „La France insoumise“ (Unbeugsames Frankreich, LFI), am 10. April so abschneidet, dass er in der zweiten Runde der Präsidentenwahl antreten kann. Ihn unterstützen mittlerweile zusehends mehr Prominente, Aktivisten aus Gewerkschaften, Berufsverbänden und NGOs. Die Gesichter seiner Sympathisanten sind in den Medien präsent und bei unzähligen Veranstaltungen zu sehen. Sie treten mit bekannten Abgeordneten von LFI aus der Nationalversammlung auf. Auch ohne den Kandidaten sind die Säle voll. Andere linke und grüne Formationen dagegen scheinen mit ihren Favoriten endgültig abgeschlagen. Unter ihren Wählern dürften sich manche finden, die für eine andere, „nützliche linke Wahl“ ihre Stimme abgeben. Und das heißt: für Mélenchon.

Mélenchon ist rhetorisch im Vorteil

Rechts bleibt Marine Le Pen zu überholen. Die besten Umfragewerte für Mélenchon liegen bei 15,5 Prozent, die schlechtesten für Le Pen bei 17,5 (für Emmanuel Macron schwankt der Wert zwischen 28 und 29 Prozent). Was ist da schon entschieden? Der Amtsinhaber wird im ersten Wahlgang wohl mit einem deutlichen Vorsprung vor dem oder der Zweitplatzierten durchs Ziel gehen. Wer auch immer den zweiten Platz belegt, ist automatisch für Fernsehdebatten mit Macron nominiert. Vor der Stichwahl 2017 war das Niveau der TV-Duelle zwischen Macron und Le Pen derart erbärmlich, dass die Erinnerung daran für Mélenchon nur von Vorteil sein kann. Vorausgesetzt, er kann sich qualifizieren. Mit ihm wären harte Kontroversen zu erwarten – die direkte Konfrontation zweier gänzlich unterschiedlicher gesellschaftlicher Modelle. Mélenchon ist berühmt für seinen Humor, seinen Sarkasmus, eine virtuose Rhetorik. Darauf setzen all jene Mitglieder von LFI, die der Maxime folgen: „Macron, das ist eine neoliberale Ökonomie à la Le Pen plus Klassenverachtung – Le Pen, das ist der Marktextremismus Macrons plus Rassenverachtung.“

Es erscheint aus vielen Gründen falsch, die Partei Mélenchons als „linksextrem“ einzustufen, nur weil deren Kritik einem Turbokapitalismus gilt, der im Finanzsektor derzeit 4.000-mal mehr an Geldwerten umsetzt als an realen Werten in der Wirtschaft. Für viele LFI-Anhänger ist Frankreich ein von der Bourgeoisie beschlagnahmtes Land und Macron deren sich auf repressive Gesetze verlassender Anwalt. Dass in diesem Land fünf Milliardäre so viel besitzen wie 27 Millionen Franzosen, hat sich tief ins Bewusstsein eingeschrieben. Zudem hat man nicht vergessen, mit welcher Brutalität die Polizei zwischen November 2018 und März 2019 gegen den sozialen Aufruhr der „Gelbwesten“ vorging.

Für die Zeit nach der Wahl hat Mélenchon ein Sofortprogramm angekündigt, sollte er Präsident werden. Er will die Benzinpreise wieder auf im Schnitt 1,40 Euro pro Liter senken, den Stand vor den spekulativen Erhöhungen der vergangenen Wochen. Dies soll zu Lasten der Mineralölkonzerne gehen, ohne dass dafür öffentliches Steuergeld eingesetzt wird. Die ersten Kubikmeter Gas für Privatkunden wären kostenlos verfügbar, je nach Verbrauch würde der Energieträger dann exponentiell teurer. Preise für Grundnahrungsmittel möchte Mélenchon ebenfalls blockieren. Dies ist nach französischem Handelsgesetz per Dekret möglich, sofern ein Notstand vorliegt. Bei acht Millionen Menschen, die jetzt schon auf Lebensmittelspenden angewiesen sind, kann eine Ausnahmesituation schneller eintreten als gedacht. Falls es dazu kommt, sollte ein Preisstopp zu Lasten der Profitmargen des Großhandels und nicht der bäuerlichen Produzenten gehen.

Eine Entscheidung, die stets der Präsident zu treffen hat, ist die Festsetzung des Mindestlohns, den Mélenchon auf 1.400 Euro erhöhen würde, käme er zum Zug. In seinem Programm ist von einer Ausgleichskasse die Rede, in die alle Unternehmen einen Pflichtbeitrag einzahlen, um bei Bedarf die Belastungen steigender Löhne in kleinen und mittleren Betrieben aufzufangen. Die Mindestrente würde dem Mindestlohn angeglichen und dürfte auch bei geringer Beitragszahlung nicht unter die Armutsgrenze von 1.063 Euro fallen. Erbschaften sollen auf den Wert von maximal zwölf Millionen Euro begrenzt werden, die Erbschaftssteuern Studierenden und Auszubildenden in Form eines Autonomie-Stipendiums von 1.063 Euro zugutekommen, so das LFI-Programm, das insgesamt an die 550 Maßnahmen vorsieht.

Außenpolitisch würde sich Mélenchon umgehend für zwei Initiativen verwenden: die Einberufung einer OSZE-Konferenz über strittige Grenzfragen und die Entsendung von UN-Blauhelmen zum Schutz ukrainischer Kernkraftwerke. Man müsse sich im Moment vier Katastrophen gleichzeitig stellen: der Pandemie, sozialer und ökologischer Verwüstung, der Klimakatastrophe und dem Krieg in der Ukraine, das zwinge alle zu einer gründlichen Inventur der Gesellschaft, so Mélenchon. Den ökologischen Umbau müsse man durch protektionistische Maßnahmen schützen.

Die Republik erneuern

Es sind viele Frauen in der Partei LFI, die sagen: „Befreie mich nicht, ich kümmere mich selbst darum!“ Und das tun sie, wie es bisher in vielen Kämpfen zu erleben war, bei den Gelbwesten, bei Streiks gegen Entlassungen und Werkschließungen, bei Jugend- und Umweltaktionen. Es soll vor allem Schluss sein mit der präsidialen Monarchie. Die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung wäre nach den Vorstellungen Mélenchons der Grundstein zu einer runderneuerten VI. Republik. Dabei kämen nur Mitglieder in Betracht, die zuvor keine politischen Ämter hatten. Zwei Drittel der Delegierten würden per Los gezogen. Alle Franzosen und Französinnen könnten Vorschläge für eine neue Magna Charta unterbreiten, die wiederum durch einen Volksentscheid zu bestätigen wäre.

Die Person Mélenchon scheint gereifter, sein einstiger Furor wirkt gedämpfter, auch wenn er immer noch ein hervorragender Tribun sein kann. Es gibt Augenblicke, da gleicht sein Wahlkampf einer Abfolge von Seminaren. Er verlässt kein Meeting, ohne ein Gedicht oder ein Stück Prosa zu lesen. Egal wie das Präsidentenvotum ausgeht: Mélenchon und sein Anhang werden in einer der Schlüsselnationen Europas etwas für eine starke Linke des 21. Jahrhunderts getan haben.

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