Breaking News >> News >> Der Freitag


Frankreich | Kampfansage an Emmanuel Macron


Link [2022-06-05 15:09:08]



Um Jean-Luc Mélenchon hat sich eine Allianz der vier linken Parteien Frankreichs versammelt. Bei der Parlamentswahl wollen sie das Lager des Präsidenten schröpfen. Dafür müssen sie auch interne Streitigkeiten überwinden

Normalerweise entstehen in diesem Land vor Wahlen links und rechts zwei Blöcke, denen sich kleinere Parteien zuordnen, über die das Wahlvolk entscheidet. Diesmal jedoch ist vor der Abstimmung vom 12. Juni (erste Runde) über die künftige Nationalversammlung eine Dreiteilung unverkennbar. Durch den sich zentristisch gebenden Emmanuel Macron, das rechtsnationalistische Lager um Marine Le Pen und das gute Abschneiden von Jean-Luc Mélenchon war dies schon zur Präsidentenwahl von 2017 der Fall, nur hielt man bis 2022 den damaligen Erfolg des Parteichefs von La France Insoumise (LFI) für ein singuläres Ereignis. Die 22 Prozent – diesmal errungen im ersten Wahlgang zur Präsidentschaft am 10. April – sollten eines Besseren belehren.

Nach der Stichwahl 14 Tage später, die Macron gegen Le Pen gewann, urteilte Mélenchon, dieser Sieg sei erneut vorrangig der Furcht vor der Rechtsaußenkandidatin zu verdanken. Demzufolge habe ein wesentlicher Teil der Wähler Macrons dessen Programm der neoliberalen Austerität nicht pro-aktiv zugestimmt. Daraus ergäbe sich die Chance für eine vereinte Linke, falls die zustande komme. Mélenchon ging davon aus, dass es nach der französischen Verfassung geboten ist, dass der Präsident seinen Premierminister aus den Reihen der stärksten Parlamentsfraktion zu wählen hat.

13 Tage und Nächte dauerten die Verhandlungen zur Linksallianz

Theoretisch könnte daher nach dem zweiten Wahlgang der Parlamentswahl am 19. Juni eine starke Linksfraktion Mélenchon als Ministerpräsidenten für eine soziale und ökologische Politik durchsetzen, vorausgesetzt, das Ergebnis lässt das zu. Augenblicklich wollen laut Umfragen nur 47 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben, zwölf Prozent mit „hoher Wahrscheinlichkeit“. Eine Wahlabstinenz gerade junger Menschen wäre für die Linke ein Risiko.

Die Verfassung jedenfalls gibt vor, dass der Premier die Innenpolitik dominiert, während sich der Präsident vorrangig den internationalen Beziehungen widmet. Eine solche „Cohabitation“ zwischen den beiden Strängen der Exekutive steht in der V. Republik nicht zum ersten Mal an. Es gab sie bereits Ende der 1980er Jahre zwischen François Mitterrand und Jacques Chirac – zwischen einem sozialistischen Staatschef im Élysée und einem Premier aus dem damals noch relevanten neogaullistischen Block (siehe Glossar).

Die Aussicht auf Regierungsverantwortung hat inzwischen unter den linken Parteien einen Prozess ausgelöst, der vor ein paar Wochen noch als Science-Fiction erschienen wäre. Mélenchons LFI-Spitze traf sich bald nach der Präsidentenwahl mit Delegationen der anderen linken Parteien und trat in Verhandlungen ein, um rechtzeitig vor dem Parlamentsvotum die Option Linksallianz zu prüfen. Demnach sollten sich Kommunisten, Grüne, Sozialisten und LFI zusammenfinden, um womöglich stärkste Parlamentsfraktion zu werden. So begann im Mai ein Gesprächsmarathon, der über 13 Tage und Nächte gehen sollte. Anfangs verhandelte man getrennt. Die LFI hatte vorab aus ihrem Wahlprogramm eine Liste von 15 nicht verhandelbaren Positionen (von fast 700 Programmpunkten insgesamt) präsentiert, die als erste Arbeitsgrundlage dienten. Allen Beteiligten sollte es erlaubt sein, das Gesicht zu wahren und die politische Identität nicht zu verlieren. Da linke Parteien wie der Parti Socialiste (PS) um ihr Überleben kämpfen, musste zugleich deutlich werden, es würde nicht um die Rettung von Karrieren auf der Basis nebulöser Absprachen gehen. Die getroffenen Vereinbarungen sollten inhaltlich stringent und verbindlich sein.

1972 – 84: Regieren heißt verlieren

Linksunion Alles beginnt verheißungsvoll, als sich 1972 Sozialisten, Kommunisten und Linksliberale auf das „Gemeinsame Programm“ einer Union de la Gauche einigen. Sie wollen ein Land des Wandels regieren. Die KP schwört der „Diktatur des Proletariats“ ab, muss aber feststellen, dass François Mitterrand mit der Allianz weniger die Welt verändern als Präsident werden will. Der Rechtstrend seines Parti Socialiste lässt die Kommunisten am Sinn der Union zweifeln. Diese zerbricht zunächst, als 1977 das Programm aktualisiert werden soll. Dann aber gewinnt Mitterrand 1981 die Präsidentschaft. Von der Basis getrieben, geht die KP mit vier Ministern in seine Regierung. Was gut geht, bis Mitterrand eine Austeritätspolitik des „tournant de la rigueur“ (Wende zur Strenge) verkündet. Die Kommunisten widersprechen, scheitern und geben 1984 das Regieren auf. Die KP soll sich von der Linksunion nicht mehr erholen.

Vor allem eines der von La France insoumise unterbreiteten Angebote war nur schwer abzulehnen: Alle beteiligten Parteien erhalten genügend Wahlbezirke zugewiesen, um ihnen eine eigene Fraktion von mindestens 15 Abgeordneten zu sichern. Die daraus resultierenden vier Fraktionen – von LFI, den Grünen, Kommunisten und Sozialisten – würden sich in einem „internen Parlament“ zu einer gemeinsamen „Interfraktion“ vereinen. Mélenchon selbst war an den Verhandlungen darüber nicht beteiligt. Was sich wohl auch damit erklären ließ, dass die rasante Annäherung an die anderen Formationen in den eigenen Reihen auf Vorbehalte und Widerstand stieß. Vielen jungen Mitgliedern von LFI fiel es schwer, sich brüderlich mit denjenigen zu vereinigen, die im zurückliegenden Wahlkampf teils heftig auf sie eingeschlagen hatten. Es kam hinzu, dass die potenziellen Partner geschwächt, zerstritten und intern stark fraktioniert sind.

Die Parteien stellen unterschiedliche Anforderungen

Mit den Grünen (EELV) kam die erste Vereinbarung zustande. Bei der innerparteilichen Vorwahl um die Präsidentschaftskandidatur hatte die Feministin Sandrine Rousseau nur knapp gegen den Realo Yannick Jadot verloren, der plötzlich von der Bildfläche verschwunden schien. Dass man sich mit LFI schnell einigte, ist mutmaßlich einem breiten Zuspruch in der Mitgliederschaft zu verdanken. Da ihnen 100 Wahlbezirke zuerkannt wurden, fanden sich die Grünen großzügig bedacht. Dass sie ihre Einwände gegen eine allzu scharfe Kritik an den EU-Verträgen geltend machen konnten, hat die Verhandlungen ebenso befördert wie die starke ökologische Agenda von Mélenchon.

Leichter fiel LFI der Konsens mit den Kommunisten (PCF) auch wegen der seit Langem guten Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen in der Nationalversammlung wie in der Legislative von Städten und Regionen. Mit der Kandidatur von Generalsekretär Fabien Roussel zur Präsidentenwahl – er kam auf 2, 3 Prozent – war der PCF in einem Fahrwasser der Selbstbehauptung unterwegs, das zuweilen absurde Züge annahm. Manchmal schien es sich um einen Rückfall in den Proletkult unseligen Angedenkens zu handeln. Kluge Kommentatoren haben dies einer verschleppten Epochenerkenntnis aus der Zeit vor 1989/90 zugeschrieben. Die bürgerliche Presse, die ihr Bild von „korrekten Kommunisten“ bestätigt sah, machte Roussel eine Weile zu einem Liebling ihrer Interviews. Ein wesentlicher Dissens zwischen LFI und PCF bestand und besteht in der AKW-Frage. Die Kommunisten wollen die Kernkraftwerke gern erhalten und nur zaghaft auf nachhaltige Energie umsteigen. Die drei anderen Partner denken an einen in vernünftigen Zeitabläufen realisierten Komplettausstieg. Man einigte sich darauf, in dieser Frage uneinig zu sein und eine Entscheidung dem Parlament zu überlassen. Der PCF erhielt 50 Wahlbezirke für seine Kandidaturen.

Am schwierigsten geriet die Linksallianz mit den Sozialisten, die sich noch immer als Gravitationszentrum der Linken in Frankreich verstehen. Die Tatsache anzuerkennen, dass ihre Zeit mehr als abgelaufen ist, gleicht für viele einem Salto mortale. So fiel der Beschluss des PS-Nationalrates für die neue Vierer-Union mit 62 Prozent Zustimmung relativ knapp aus. Die alten Schwergewichte, denen die Höllenfahrt der Partei vorrangig zu verdanken ist, empören sich besonders vehement gegen diesen revolutionären Schritt. Ex-Innenminister Bernard Cazeneuve ist kurzerhand ausgetreten, Ex-Präsident François Hollande spekuliert ebenso wie Ex-Generalsekretär Jean-Christophe Cambadélis über ein Verschwinden der Partei.

1986 – 88: Offenen Auges schlafen

Cohabitation Der sozialistische Präsident François Mitterrand hat die Wahlversprechen von Jacques Chirac stets als „permanenten Jackpot“ verhöhnt, doch es hilft wenig. Der Gegenspieler aus dem bürgerlichen Lager gewinnt im März 1986 die Parlamentswahl und wird Premierminister. Kaum im Amt revanchiert sich Chirac, indem er Mitterrands salbungsvolle Reden als Melange aus Andacht und „prêchi prêcha“ (Wischiwaschi) geißelt. Womit gesagt ist: Die erste und bisher einzige „Cohabitation“ der V. Republik ist kein Hochamt der Koexistenz. Die Partner wider Willen müssten sich selbst verleugnen, um miteinander auszukommen. Chirac wildert in der Präsidentendomäne Außenpolitik, da er als Gaullist nicht auf Verkehrspolitik reduziert sein will. Es ist ausgestanden, als beide zur Präsidentenwahl 1988 kandidieren. Sie müssen nicht mehr mit offenen Augen schlafen, um auf dem Sprung zu sein, falls der andere springen will.

Kurzum, es hat sich eine innerparteiliche Opposition formiert, die erwägt, eigene Kandidaten in den Wahlkampf zu schicken. Das könnte heftig werden, denn allen Mitgliedern, die sich nicht an die beschlossene Union halten, droht ein Verfahren zum Parteiausschluss, so Olivier Faure, momentan Parteichef. Dieser geht mutig seinen Weg, er scheint wie ausgewechselt, gelöst und optimistisch, ebenso wie alle anderen Mitglieder, die den linken Konsens ausgehandelt haben. Den Sozialisten sind 70 Wahlbezirke zugestanden, bei einem Ergebnis von 1,8 Prozent bei der Präsidentenwahl für ihre Bewerberin Anne Hidalgo eine eher kulante Quote.

Streitpunkt der Allianz: Das EU-Recht

Jean-Luc Mélenchon war 30 Jahre lang PS-Mitglied und hat immer wieder vergebens versucht, eine linke Linie zu vertreten. Nun aber hat er sich durchgesetzt – von außen her kommend. Auch beim Arrangement PS-LFI erwies sich die EU als Problemfeld. Man einigte sich darauf, wenn EU-Recht und das vereinbarte gemeinsame Programm kollidieren, man sich dem nicht beugen werde. Womit manche EU-Verträge obsolet werden könnten. Mélenchon formuliert es so: Die EU hat sich in ihrer niedergeschriebenen Verfasstheit auf eine allein gültige ökonomische Konzeption festgelegt, wie man das früher nur von der Sowjetunion kannte. Die Politik einer ökologischen Radikalität führe notwendigerweise zu einem konsistenten Antikapitalismus.

Die Pandemie hat Präsident Macron gezwungen, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln, doch wurde damit die Programmierung seiner Festplatte nicht gelöscht. Die Einsetzung seiner Interimspremierministerin Élisabeth Borne sagt genau das. Der neoliberale Kurs soll wieder Fahrt aufnehmen, für die Europa-Politik ist Gleiches zu vermuten. Das Volk hat jetzt eine Option, dies abzuwenden.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



Most Read

2024-09-19 20:04:03