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Filmfestival | Filmfestspiele Cannes: Viele Filme bleiben im Mittelmaß stecken


Link [2022-05-25 09:13:59]



Das Filmfestival in Cannes ist vom Ukraine-Krieg geprägt. Die Corona-Pandemie scheint passé, cineastische Sensationen fehlen noch

Ein Mann hebt den Splitter einer Granate auf, die gerade in unmittelbarer Nähe der Kirche eingeschlagen hat. Dutzende Menschen haben hier Unterschlupf gefunden, seit feindliches Militär die Stadt unter Dauerbeschuss hält. Er kann das erhitzte Stück Metall aber nur ganz kurz in den Fingern halten, ohne sich zu verbrennen, und wirft es dem Nächsten zu, der tut dasselbe. So springt das heiße Eisen von Hand zu Hand wie ein Spielball, bis jemand mahnt: „Das ist kein Witz, das ist der Tod.“

Die Szene stammt aus einem Film, der in Cannes Premiere feierte, aber nicht aus einem Spielfilm, es sind Bilder aus dem Krieg. Was hier auf der Leinwand zu sehen ist, passierte vor wenigen Wochen tatsächlich in der ukrainischen Stadt Mariupol, mit der Kamera festgehalten von dem litauischen Filmemacher Mantas Kvedara–vičius, der im Kriegsgebiet drehte, bevor er dort Anfang April von russischen Soldaten erschossen wurde.

Der Ukraine-Krieg und die reale Welt waren diesmal auch beim international wichtigsten Filmfestival nicht außen vor zu lassen, zu dringlich sind die Ereignisse jenseits der Leinwände, sosehr Festivalleiter Thierry Fremaux „le cinéma“ als Kunstform hochhält. Der Einbruch der Wirklichkeit hatte dann auch gleich bei der Eröffnungszeremonie am Dienstagabend vergangener Woche begonnen, als es neben glitzernden Roben und salbungsreichen Hymnen auf die Magie des Kinos auch eine Videobotschaft des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi gab, der eindringlich zur Solidarität mit der Ukraine mahnte und in Anspielung auf Charlie Chaplins Hitler-Satire Der große Diktator dazu aufrief, dass „das Kino heutzutage nicht schweigt“.

Das Festival hatte dazu im letzten Moment Mariupolis 2 ins Programm aufgenommen, die Aufnahmen Kvedaravičius, der den Kriegsalltag in der ukrainischen Hafenstadt dokumentiert hatte. Nach dessen Ermordung war es seiner ukrainischen Lebensgefährtin gelungen, das Material zu sichern und mit einer befreundeten Editorin zu einem zweistündigen Zeugnis des bangen Ausharrens in der umkämpften Stadt zu montieren.

Die Bilder sind erschütternd, aber nicht voyeuristisch. In langen Einstellungen zeigen sie das Zermürbende der Situation, aber auch einen stoischen Pragmatismus. In einem Moment kehrt jemand Scherben, Schutt und Splitter im Kirchhof zusammen, der womöglich bald erneut Ziel von Angriffen sein wird. Ein kurzer Moment des Ordnung-Machens angesichts des nicht beherrschbaren Chaos draußen.

Film mit Tilda Swinton und Idris Elba Verpufft in allerlei Mumpitz

Das Festival selbst versucht die Weltlage auf seine Art in den Griff zu bekommen und hatte etwa offizielle russische Delegationen für dieses Jahr ausgeschlossen. Einzig der inzwischen im Berliner Exil lebende Regisseur Kirill Serebrennikow durfte sein Historiendrama Tchaikovsky’s Wife im Wettbewerb vorstellen. Davon abgesehen herrscht bei der 75. Ausgabe des Festivals im dritten Jahr der Pandemie wieder nahezu „business as usual“. Die Kinos sind voll besetzt, am roten Teppich tummeln sich Hunderte Fans dicht an dicht, auf dem Filmmarkt im Untergeschoss des Palais herrscht Hochbetrieb. Test-, Impf- und Maskenpflicht sind passé, nur wenige tragen noch einen Mund-Nasen-Schutz.

Der unbedingte Wille, zur Normalität zurückzukehren, ist überall spürbar. Auch Hollywood ist wieder da. Mit Tom Cruise landete der wahrscheinlich größte Kinostar an der Croisette, um das Fliegerspektaktel Top Gun: Maverick vorzustellen. Zur Premiere wurde gar eine Formation Düsenjets der französischen Luftwaffe in der Nachmittagssonne über die Straßenblöcke und Nobelhotels an der Strandpromenade gejagt, die sehr fotogen im richtigen Moment mit Rauch die Nationalfarben in den Himmel malten, was nicht nur wegen der lautstarken Initiative des Festivals für Klimaneutralität einen seltsamen Beigeschmack hat.

Schwaden tauchten immer wieder auf, bei den schwarzen Rauchfackeln etwa, die eine Gruppe militanter Feministinnen aus Protest auf dem roten Teppich entzündeten, aber auch auf der Leinwand, wie bei den frühmorgendlichen Nebeln, durch die fahle Sonnenstrahlen stechen, in Pietro Marcellos analog gedrehter Literatur-Adaption Scarlet. Flüchtig ist auch der Flaschengeist in George Millers Three Thousand Years of Longing, verwandelt sich in vielfarbigen Rauch in dieser aufwendig mit Digitaleffekten aufgeblasenen Märchenfantasie über alte Mythen, das Wünschen und Geschichtenerzählen, die trotz Tilda Swinton und Idris Elba in allerlei Mumpitz verpufft.

Jede*r kämpft ums Überleben

So unterrepräsentiert Regisseurinnen am Ende im Wettbewerb auch sind, finden sich dort und in den Nebensektionen doch zahlreiche Geschichten mit Protagonistinnen, die ihren eigenen Weg suchen und aufbegehren gegen zugewiesene Rollenbilder und Erwartungen. In einem der besten Filme des Nebenprogramms, Marie Kreutzers Corsage, versucht die österreichische Kaiserin Elisabeth (Vicky Krieps), sich von den einengenden Verhältnissen am Hof zu befreien. Ein formal und inhaltlich kühnes Porträt, das Sisis Image als märchenhafte Ikone allen Zuckergusses entblättert und sie als eigenwillige, kluge und streitbare Frau zeigt.

Vicky Krieps spielt auch die Hauptrolle in Emily Atefs Drama Plus que jamais, als eine junge Frau, die buchstäblich erstickt, hier nicht an den Verhältnissen, sondern an einer seltenen Lungenkrankheit. Sie lässt schließlich ihren Freund (der im Januar bei einem Skiunfall tödlich verunglückte Gaspard Ulliel in seiner letzten Kinorolle) zurück, um sich in der Natur Norwegens mit der eigenen Sterblichkeit auszusöhnen. Mit Tod und Verlust ist auch Mia (Virginie Efira) in Alice Winocours Drama Paris Memories konfrontiert, die das Attentat auf ein Restaurant in Paris überlebte und nun mit dem Trauma, falschen Erinnerungen und Schuldgefühlen hadert, aber auch heilende Solidarität unter den Betroffenen erfährt. Auch sie findet ihren eigenen Umgang, selbst wenn das bedeutet, dafür Beziehungen infrage zu stellen.

Beide Filme liefen in der wichtigsten Nebensektion „Un Certain Regard“, dabei hätte vor allem Corsage durchaus einen Platz im Rennen um die Goldene Palme verdient. Richtig entgleist war im Wettbewerb bis zur Halbzeit nur ein Film, Arnaud Desplechins Frère et sœur mit Marion Cotillard und Melvil Poupaud als verstrittenen Geschwistern, sie kalt-divaeske Theaterschauspielerin, er überdramatisierender Schriftsteller, und deren dysfunktionaler Familie, in der ebenso viel geschrien wie totgeschwiegen wird, ohne dass klar ist, worin der Konflikt und die Verletzungen bestehen.

Vieles andere bleibt im Mittelmaß stecken oder ergeht sich in selbstreferenziellen Genreübungen, wie der Eröffnungsfilm Final Cut von Michel Hazanavicius über den Dreh eines Zombiefilms, der vermeintlich schiefläuft. James Gray bleibt in seinem nostalgischen Armageddon Time über die Kindheit eines kunsttalentierten Jungen in einer jüdischen Familie im Queens der 1980er seltsam eindimensional.

Mit Spannung erwartet wurde auch der neue Film des Schweden Ruben Östlund, der mit der Kunstsatire The Square 2017 die Goldene Palme gewonnen hatte. Mit Triangle of Sadness legt er noch einige Baggerschaufeln Drastik obendrauf, vor allem im mittleren Teil seines Sozialfarce-Triptychons, der in der Klassengesellschaft auf einer Luxuskreuzfahrt durchs Mittelmeer spielt. Die Reichen und Schönen, darunter ein junges Influencer-Pärchen, ein russischer Oligarch, der es mit Fäkalien zu Geld gebracht hat, und ein britisches Renterpaar, das sich als Produzenten von Landminen und Handgranaten entpuppt, benehmen sich dem Bordpersonal gegenüber erwartungsgemäß mies, bis das Kapitänsdinner derart aus dem Ruder läuft, dass auch die letzten zwischenmenschlichen Verhaltensregeln über Bord geworfen werden und alles in einer großen Kotzerei endet. Das ist in Details immer wieder amüsant, bleibt aber letztlich eine ziemlich plakative und wenig subtile Sozialkritik.

Deutlich vielschichtiger und faszinierender ist da Cristian Mungius Drama R.M.N. über den Rassismus in einem rumänischen Dorf, das im Kleinen den Zustand des ganzen Landes widerspiegelt. Die Gesellschaft ist multiethnisch, der Protagonist Matthias (Marin Grigore) etwa gehört der deutschen Minderheit an, die Bewohner nutzen gleich mehrere Alltagssprachen, Mungiu zeigt das wie nebenbei. Und doch gibt es eine Fremdenfeindlichkeit, die mit der Ankunft von Hilfsarbeitern aus Sri Lanka eskaliert.

Am Ende kämpft jede*r ums Überleben und ist sich selbst am nächsten. Mungiu seziert damit erneut seine rumänische Heimat und die sozialen, politischen und identitären Konflikte, die dort seit dem Ende der Diktatur immer offener zutage treten.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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