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Festival | Wider die Befindlichkeit


Link [2022-04-06 20:15:34]



Die Schaubühne in Berlin bietet Stücken aus Nord- und Südamerika eine Plattform. Keine leichte Kost, aber endlich frischer Wind

Staatliche Gewalt, die ein Individuum für Geheimnisverrat bestraft, die Ohnmacht und Korrumpierbarkeit des Einzelnen in einem Terrorstaat, aber auch die Kraft von Verbundenheit und Zusammenhalt im Angesicht schrecklicher Weltereignisse: Das Festival Internationale Neue Dramatik 2022 (FIND) an der Berliner Schaubühne bietet zum Auftakt eine so welthaltige Mischung von Theater, wie auf einer Berliner Bühne lange nicht mehr gesehen. Den Amerikas gewidmet, sind bei der diesjährigen Ausgabe unter anderem Gastspiele aus den USA, Chile und Kanada eingeladen.

Die New Yorker Regisseurin Tina Satter greift in Is This A Room einen exemplarischen Fall von Whistleblowing auf: Die Air-Force-Linguistin Reality Winner leakte 2017 ein streng geheimes Dokument des US-Geheimdienstes NSA, das die russische Einmischung in die US-Wahlen 2016 belegte. Wortwörtlich gesprochen wird auf der Bühne die Aufnahme des Verhörs, das am 3. Juni 2017 in Reality Winners Zuhause stattfand. Als sie vom Einkaufen nach Hause kommt, stehen zwei Mitarbeiter des FBI (Will Cobbs, Pete Simpson) vor ihr – statt Einkaufstüten trägt die Schauspielerin Katherine Romans, die in kurzen Jeans und Hemd sehr jung und privat wirkt, nur einen schmalen Rucksack.

Lektion für die Wirklichkeit

Psychologisch genau gearbeitet ist, wie Winner kooperativ bleibt und versucht, Haltung zu bewahren. Sie realisiert, dass ihr bisheriges Leben zu Ende geht; fast bricht ihre Stimme, ein leichtes Zittern und Zusammensacken schleicht sich in ihre Körpersprache, wenn sie sich unbeobachtet wähnt. Am Schluss erklingt eine Tonaufnahme, in der Winner ihre Strafe zusammenfasst: fünf Jahre Haft für die Weitergabe vertraulicher Informationen. Is This A Room ist eine präzise Dokumentation (nicht nur) der Trump-Ära und der USA als Weltmacht, die vermeintliche innere Feinde wie Edward Snowden, Chelsea Manning oder eben Reality Winner erbarmungslos verfolgt.

Oasis de la Impunidad von Marco Layera und seinem Teatro La Resentida aus Santiago de Chile wiederum zeichnet das stilisierte Bild einer durch und durch von Gewalt geprägten Gesellschaft. Neun identisch kostümierte Darsteller:innen tapsen wie eine ferngesteuerte Zombie-Einheit über den goldfarbenen Bühnenboden – und malträtieren einander mit schwer aushaltbarer Grausamkeit. Zerren an Haaren, würgen, fleddern Leichen. Auch abstrahiert lässt sich der Bezug zu den teils gewaltsam niedergeschlagenen sozialen Protesten in Chile 2019 und 2020 herstellen.

Was das mit uns zu tun hat? Marco Layera und La Resentida finden in den Schlussszenen eine deutliche Antwort. Carolina de la Maza spielt eine Mutter, die haltlos weint, als fünf gefühllose Horror-Puppen den Sarg eines Kindes hereintragen. Naturalistisch, nicht stilisiert ist das Weinen – für Zuschauer:innen des dem Pathos nicht zugeneigten deutschen Theaters kaum erträglich. Doch Layera, der schon an der Schaubühne gearbeitet hat und die hiesigen Befindlichkeiten kennen dürfte, wendet das Gefühl der Distanznahme gegen uns: De la Mazas Figur wird kurzerhand ermordet und entkleidet, Lucas Carter wirft sie sich über die Schulter und trägt sie in Reihe drei, wo er sie wie ein Stück Fleisch auf einen freien Platz fallen lässt.

Unbarmherzig richtet sich ein Scheinwerfer auf die nackte Tote in Reihe drei, der jemand alibimäßig einen Schal umgelegt hat. „Heute ist hier kein Recht ergangen“, niemand von uns Zusehenden habe die Party in dieser Oase der Straflosigkeit beendet, heißt es im eingespielten Audio. Ja, wieder einmal haben wir uns nicht gerührt, als sich vor unseren Augen schreckliche Szenen abspielten. Das Theater erteilt der Wirklichkeit eine Lektion – eine starke, Gänsehaut verursachende Setzung.

Wie l’art pour l’art wirken da die Seven Streams of the River Ōta, ein Mammutwerk des kanadischen Regisseurs Robert Lepage, der als Künstler im Fokus von FIND 2022 steht. 1996 uraufgeführt, wurde das siebenstündige Epos 2019 wiederaufgenommen. Erzählerisch über Jahrzehnte angelegt und in sieben Episoden alle Figuren aufs Engste miteinander verflechtend, beginnt die Story im japanischen Hiroshima. US-Soldat Luke O’Connor (Christian Essiambre), der die Schäden des Atombombenabwurfs fotografisch dokumentiert, lernt die Überlebende Nozomi (Myriam Leblanc) kennen, deren Gesicht durch die Explosion versehrt ist. Aus der Begegnung ergibt sich eine Liebesbeziehung, aus der ein Kind hervorgeht: Jeffrey (Umihiko Miya) trägt denselben Namen wie sein Bruder (Christian Essiambre) im fernen New York.

Jeder Erzählstrang in The Seven Streams of the River Ōta ist sorgfältig angelegt, jedes Detail hat im Verlauf der Geschichte seinen Sinn. Befremdlich kulminiert dieses narrative Prinzip in Episode 5, „The Mirror“. Hier erscheinen die KZ-Baracken Theresienstadts und die Rettung der Künstlerin und späteren Zen-Nonne Jana Capek (Lorraine Côté) hinter einer Spiegelwand. Verharmlosend wirkt diese Episode, die theatral wider die Kontingenz historischer Ereignisse und für Hoffnung, Humanismus, Heiterkeit trotz widrigster Umstände plädiert. Alles hat einen Sinn? Eine beschwichtigende Botschaft, die das Individuum aus einer Sphäre gesellschaftlicher Widerständigkeit in eine private Sphäre des persönlichen Zusammenhalts entrückt.

Vereinzelung, Mittäterschaft, Eingebundensein in größere Zusammenhänge: Die drei Auftaktinszenierungen des FIND zeichnen ein je eigenes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft – ästhetisch wie inhaltlich frischer Wind.

Info

Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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