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EZB | Bleiben Sie hart, Madame Lagarde!


Link [2022-01-22 19:40:09]



Zinsen rauf, Schulden runter? Trotz der hohen Inflationsrate in der Eurozone beharrt die Europäische Zentralbank auf ihrer Nullzinspolitik und handelt damit entgegen einer weitverbreiteten ökonomischen Auffassung

Die Preise steigen, die Inflation, das Lieblingsgespenst der Deutschen, ist wieder da und erfasst den gesamten Euroraum. Das EU-Statistikamt Eurostat konstatiert Rekordhöhen von 4,9 Prozent im November und 5,0 zum Jahreswechsel. Unbestreitbar ist dieser Wert mehr als doppelt so hoch wie das für die Europäische Zentralbank (EZB) nach wie vor gültige Inflationsziel von zwei Prozent, also der Richtwert, an dem die Zentralbanker Geldwertstabilität messen.

Dennoch hat EZB-Chefin Christine Lagarde mehrfach verkündet, die Zinsen im Euroraum vorläufig nicht erhöhen zu wollen. Obwohl die Fed in den USA und die Bank of England mit einer Zinswende begonnen haben, bleibt sie unbeirrt. Allein die Politik des Ankaufs von Staatsanleihen wird geändert. Im Dezember hat die Bank für das Frühjahr ein Ende der Anleihekäufe beschlossen, die über das 1,85 Billionen Euro schwere Pandemie-Notprogramm PEPP abgewickelt werden. Ab April soll als Übergang ein deutlich niedriger dimensioniertes Kaufprogramm namens APP weiterlaufen. Wann das endet, lässt die EZB offen. Was allenthalben als klare Ansage verstanden wird: Die Nullzinspolitik der EZB geht auch 2022 weiter.

Nach einer der in Deutschland meistgeglaubten ökonomischen Unwahrheiten folgt Inflation auf Schuldenmachen und erhöhten Geldumlauf. Je höher die Verschuldung, besonders die staatliche, wie sie nicht zuletzt von der EZB durch Anleihekäufe in Gang gehalten wird, desto höher die Geldentwertung. Daher die Sachzwang-Logik: Um die Inflation einzudämmen, müssen die Zinsen rauf. Lagarde und die Mehrheit des EZB-Rats beugen sich dem nicht und halten dagegen. Sie sind überzeugt, dass diese Inflation vorbeigehen wird. Schon in wenigen Monaten würden die Raten sinken, weil die Gründe temporärer Natur seien. Sie ergäben sich aus immer neuen Unterbrechungen globaler Liefer- und Wertschöpfungsketten sowie steigenden Transportkosten, weil die Logistik des Welthandels anfälliger und fragiler sei als angenommen. Zudem werden einige Preise in unguter politischer Absicht in die Höhe getrieben, bei Rohstoffen ebenso wie bei Energie, und das trotz vorhandener Überkapazitäten.

Nicht nur zusehen

Christine Lagarde beharrt auf einem weiteren Argument für ihren Kurs. Selbst wenn die EZB wieder zu Zinsen zurückkehren wollte, würde das weder die heutige Inflation dämpfen noch deren Verlierern etwas nützen, könnte aber die dringend benötigten Investitionen beschränken. Ohnehin sind die Inflationsraten im Euroraum nicht dort höher, wo die Verschuldung am höchsten ist. Länder wie Griechenland oder Italien verzeichnen deutlich niedrigere Kaufkraftverluste als Deutschland. Von einem durch die ultralockere Geldpolitik der EZB verursachten Nachfrageüberhang, der die Erzeugerpreise treibt, kann daher kaum die Rede sein. Und überhitzt ist die Konjunktur in der Währungsunion gewiss nicht. Bei den Kapazitäten haben die weitaus meisten Produzenten noch Spielraum, nur bleibt die Warenlogistik gestört.

Die seit 2020 mit Schulden finanzierten Hilfsprogramme sollten die durch Pandemie und Lockdown bedingten Einkommensverluste kompensieren, was bisher auch erreicht wurde, nur keineswegs in ausreichendem Maße. Einen umfassenden Schadenersatz für private Verluste kann und soll der Staat nach gängiger liberaler Auffassung nicht leisten. Und dass Unternehmen pandemiebedingte Lieferengpässe auf breiter Front zu Preisschüben nutzen und gestiegene Erzeugerpreise an die Kundschaft weiterreichen, das können nationale Regierungen wie die EZB innerhalb des gegebenen Wirtschaftssystems nur bedingt verhindern.

EU-weit sind mit 66 Prozent die Preise für Öl, Gas und Strom die größten Inflationstreiber. Daran kann die Zinspolitik der EZB ebenso wenig ändern wie an den Lebensmittelpreisen, die für alle merkbar seit Monaten in die Höhe schießen. Je ärmer man ist, desto mehr von seinem Einkommen muss man für Lebensmittel ausgeben, desto härter trifft die Inflation gerade hier.

Wer die Inflationsfolgen für die Verbraucher in Euroland dämpfen will, wer denen wirklich helfen will, die von der Inflation deutlich stärker getroffen werden als andere, kann das tun. Allerdings ist dann nicht die EZB, es sind die nationalen Regierungen gefragt. Sie können sich auf ein altbewährtes Mittel der Sozialpolitik besinnen, auf die Indexierung nämlich. Die ist zwar in den meisten EU-Staaten seit vielen Jahren ausgesetzt, aber dort, wo sie offiziell noch im Gesetz steht, ein äußerst wirksames Mittel. Indexieren heißt, die jeweiligen Mindestlöhne, das Kindergeld, sämtliche Renten, Sozialleistungen und – soweit vorhanden – ein Bürgergeld ein- oder zweimal pro Jahr automatisch mit der Inflationsrate nominal zu erhöhen, gemessen vorzugsweise an steigenden Verbraucherpreisen. Man könnte außerdem die Mehrwertsteuer senken, zumindest bei Lebensmitteln und Strom, oder die Kohlendioxidsteuer herunterfahren.

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