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Essay | Kapital will wachsen: Degrowth und Postwachstum in der Klimaschutzdebatte


Link [2022-05-31 09:09:50]



Woher kommt eigentlich der Zwang zum Wachstum: von der Gier der Menschen oder der Weise, wie unser Wirtschaftssystem funktioniert? Und was heißt das für die Klimadebatte?

Der Krieg in der Ukraine, angespannte globale Lieferketten und hohe Inflationsraten gelten derzeit als die größten Bedrohungen für die Weltwirtschaft. Denn sie bedrohen ihr Wachstum. Es wird von Stagnation gesprochen, die keine beruhigende Stabilität der Wirtschaftsleistung bezeichnet, sondern eine Gefahr für Wohlstand und Arbeitsplätze. Beides ist offensichtlich vom Wachstum abhängig. Aber warum?

„Gesamtwirtschaftliches Wachstum“, so der jüngste Jahresbericht des Bundeswirtschaftsministeriums, „gemessen am Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts, ist eine notwendige Voraussetzung für nachhaltigen Wohlstand, Beschäftigung, Teilhabe und soziale Sicherheit.“ Noch einen Schritt weiter ging kurz danach Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen): Auf Wachstum zu verzichten, „würde heißen, wir verzichten irgendwann auf die Idee von Fortschritt“. Wachstum soll also nicht nur notwendig sein, sondern auch nützlich.

Dem widersprechen die sogenannten Wachstumskritiker. So forderte der Philosoph Ulrich Roos eine „Transformation unserer Lebensweise“, weg von der „immerwährenden Steigerung des materiellen Wohlstands“. Der Ökonom Tim Jackson beklagt „eine Wirtschaft, deren Stabilität auf die unaufhörliche Stimulation der Konsumentennachfrage angewiesen ist“. Und der Soziologe Harald Welzer hält es für nötig, „sich Gedanken darüber zu machen, wie man eine Wirtschaftsform entwickelt, die nicht monothematisch von Wachstum abhängig ist“.

Verzicht wäre ganz schlecht

Die Debatte ums Wachstum krankt daran, dass meist nicht eindeutig gesagt wird, was man unter „Wirtschaft“ versteht und was da eigentlich „wächst“. Freunde wie Gegner des Wachstums fassen unter „Wirtschaftswachstum“ häufig alles Mögliche zusammen: Autos, Energie und Computer auf der einen Seite, Umsatz, Investitionen und Gewinn auf der anderen. Sie trennen nicht die stoffliche Ebene – die produzierten Dinge – von der finanziellen Ebene, wo nur das Geld zählt. Das Streben der Unternehmen nach Profit wie auch das Streben der Menschen nach mehr Konsumgütern – beides gilt als „materieller Wohlstand“, der wächst. Aber ist das ein Zwang?

„Die Menschen wollen Wachstum“, einfach weil dadurch ihr Wohlstand zunimmt, sagte der Wirtschaftsweise Volker Wieland bei Jung & Naiv. Jackson spricht von einer „Obsession mit Wachstum“. Aus den Bedürfnissen und Einstellungen der Menschen allerdings kann sich kein Zwang zum Wachstum ergeben. Selbst wenn man annimmt, dass diese Bedürfnisse prinzipiell grenzenlos sind, bliebe ihre Befriedigung doch ein Akt des Willens: Jede:r könnte verzichten, jede:r kann eine Obsession ablegen, wenn auch unter Schmerzen. Jedoch: Würden alle zum Wohle des Klimas verzichten, wäre eine ausgewachsene Wirtschaftskrise die Folge. Der existierende Zwang zum Wachstum ergibt sich also weder aus der unersättlichen Natur des Menschen noch aus seinen Verirrungen. Er ist eine Eigenart des herrschenden Wirtschaftssystems.

Kapitalistische Unternehmen brauchen immer mehr. Sie leben von der Steigerung. Ein Unternehmen investiert 1.000 Euro, um 1.500 Euro zurückzuerhalten. In der nächsten Runde investiert es die 1.500, um 2.000 Euro zurückzuerhalten. Und so weiter. „Kapital“ ist keine Sache, es benennt eine Bewegung, die Verwertung einer Geldsumme. Eine Investition muss „sich rechnen“: Die eingesetzte Summe muss sich vermehren, und zwar mit möglichst hoher Rate. Das bedeutet, dass Produktion unter der Bedingung und damit zu dem Zweck stattfindet, Umsatz und Gewinn zu erhöhen. Das macht jene reicher, denen die Unternehmen gehören, woraus sich ihr Wunsch nach Wachstum ergibt, der tatsächlich grenzenlos ist. Denn es geht nur um die Vermehrung von Privateigentum in seiner materiellen Gestalt: Geld, und das hat kein Maß, es ist nie genug.

Konkurrenz zwingt zu Wachstum von Umsatz und Gewinn

So weit zum Wunsch nach Wachstum. Der Zwang wiederum ergibt sich aus der Art, wie die Unternehmen ihre Überschüsse erzielen: in der Konkurrenz um die zahlungsfähige Nachfrage. Theoretisch könnte sich ein Konzern dafür entscheiden, nicht länger zu wachsen, also Umsatz und Gewinn konstant zu halten. Abgesehen von der Frage, warum er das tun sollte – um Stagnation zu erreichen, müsste sich ein Autohersteller mit den anderen Autoherstellern absprechen. Doch ist die Marktwirtschaft keine Planwirtschaft, und die anderen Hersteller sind keine Partner, sondern Konkurrenten. Gegeneinander versuchen sie, ihre Produkte zu verbessern, die Kosten zu senken, um sich gegen die anderen durchzusetzen. Mit immer kürzeren Innovationszyklen, immer neuen Verfahren der Rationalisierung versuchen sie, den anderen die Maßstäbe der Produktivität vorzugeben. Dafür brauchen sie immer größere Kapitalsummen – wer sich hier mit dem Erreichten zufriedengibt, dem droht Schrumpfung, also Entwertung seines Kapitals und damit die Pleite.

In ihrer Konkurrenz zwingen sich die Unternehmen damit zu dem, was sie ohnehin wollen: Wachstum von Umsatz und Gewinn. Das gilt auch für die Outdoormarke „Patagonia“, selbst wenn für sie Wachstum laut ihrem Chef Ryan Gellert „im Moment kein Ziel mehr ist“. Gleichzeitig aber „verteidige ich, dass wir profitabel sein müssen. Ohne Gewinnmarge haben wir keine Mission“, sagte er der Neuen Zürcher Zeitung. „Wie viel Geld müssen wir also verdienen? Ich würde sagen: einen akzeptablen, wettbewerbsfähigen Betrag. Mehr nicht.“ Gellert will also, was alle wollen: einen „wettbewerbsfähigen“ Profit. Mehr nicht.

Dass Produktion nur stattfindet, wenn und insoweit sie „sich rentiert“, wenn sie also einen bilanziellen Zuwachs zeitigt, bedeutet: Der maßgebliche Wohlstand im heutigen Wirtschaftssystem besteht nicht in den produzierten Gütern, sondern im Wachstum von Kapitalsummen, die sich in Luft auflösen, wenn dieses Wachstum ausbleibt. Von Gedeih und Verderb dieser Kapitalsummen hängt wiederum die öffentliche Hand ab. Denn an Rate und Masse des Wachstums bemisst sich die Macht einer Regierung, wirtschaftlich – und damit politisch und militärisch. „Wir müssen weiterwachsen“, sagt der Ökonom Mathias Binswanger, „sonst fallen wir im Vergleich zu anderen Ländern zurück, werden als Innovationsstandort unattraktiver, das steigert die Arbeitslosigkeit.“

Dass bei Wachstumsschwäche die Arbeitslosigkeit steigt, bedeutet umgekehrt, dass die Arbeit im Kapitalismus dem Wachstum dient und für das Wachstum stattfindet. Sie produziert den Unternehmen erstens die zu verkaufende Ware. Zweitens muss die Bezahlung der Beschäftigten niedrig genug sein, dass die Differenz zum Verkaufspreis der Ware einen Gewinn einbringt. Das ist die entscheidende Bedingung dafür, dass Arbeitsplätze geschaffen werden. Das unternehmerische Interesse an Arbeit ist also zunächst dadurch bedingt, dass sie einen Mehrwert abwirft – ist diese Bedingung aber erfüllt, ist es maßlos. Denn rentable Arbeit ist der kapitalistische Wachstumsmotor, von ihr können Unternehmen und Staat nicht genug bekommen, weshalb der Zwang zur Arbeit genauso wenig endet wie der zum Wachstum. „Wirtschaftliches Wachstum und ein hohes Beschäftigungsniveau sind zentrale wirtschafts-, sozial- und finanzpolitische Ziele“, so der Jahreswirtschaftsbericht. Jede:r Arbeitslose ist in dieser Perspektive eine Verschwendung von Ressourcen, eine verpasste Wachstumschance.

Konkurrenz hindert Degrowth

Dass im Kapitalismus alles vom Wachstum abhängig ist, spricht für viele allerdings nicht gegen den Kapitalismus, sondern für das Wachstum. „Schrumpft die Wirtschaft, wächst die Not“, schreibt Alexander Neubacher im Spiegel. Der Ungleichheitsforscher Branko Milanović hält den Wachstumskritikern entgegen: „Jetzt das Wirtschaftswachstum einzustellen, würde bedeuten, zehn bis 15 Prozent der Weltbevölkerung unter der Armutsgrenze zu halten.“ Dass alle Menschen, die nicht dem Wachstum dienen, zur Armut verdammt sind, gilt hier nicht als Kennzeichen des herrschenden Wirtschaftssystems, sondern des Wirtschaftens an sich. Zwar, das wird zugestanden, führe das Wachstum zu Umweltproblemen, es sei aber gleichzeitig die Lösung dafür: „Wo soll das Geld herkommen, das für klimafreundliche Technologien und den Umbau der Industrie, der Energieversorgung, der Landwirtschaft gebraucht wird?“, so Neubacher, für den Überlegungen zu Degrowth und Postwachstum bloß „Gerede“ von „Schönwetterphilosophen“ sind.

In der Klimadebatte wird der Zwang zum Wachstum einerseits als Hunger „der Menschen“ nach immer mehr naturalisiert, ansonsten aber stillschweigend akzeptiert. Dass Kapitalwachstum nicht notwendig identisch ist mit dem Wachstum des Stoff-, Energie- und Umweltverbrauchs, machen sich die Protagonisten eines „grünen“ Wachstums zunutze und setzen auf Entkopplung: Die Unternehmen sollen weiter verdienen und expandieren, aber mit weniger CO₂-Ausstoß, durch den Verkauf „grüner“ Produkte und den Einsatz „sauberer“ Produktionsverfahren. Zwar basiert der existierende Reichtum auf einer gigantischen Schädigung der Natur. Technologie und Innovation sollen gewährleisten, dass dieser Reichtum sich weiter reproduziert und vermehrt, aber ohne die ökologischen Konsequenzen.

Theoretisch kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich diese Hoffnung erfüllt. In der kapitalistischen Praxis jedoch ergibt sich erstens das Problem, dass Klimaschutz Kosten verursacht und Kosten ein Konkurrenznachteil für Standorte ebenso wie für Unternehmen sind. Zweitens steht in den Sternen, ob der Klimaschutz, wie gefordert, zum neuen Wachstumsmotor werden kann, also zu einer Gewinnquelle für die Unternehmen. Fest steht jedoch: Die sicheren Kosten und die unsicheren Erträge des Klimaschutzes führen stets dazu, dass bestenfalls nur das Nötigste zum Klimaschutz unternommen wird – und vielleicht nicht einmal das. Die Weltorganisation für Meteorologie meldete vergangene Woche, die globale Durchschnittstemperatur eines Jahres könnte bis 2026 erstmals mehr als 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau liegen.

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