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Ernährung | Lebensmittel: Bio hat als Distinktionsmerkmal ausgedient


Link [2022-05-21 22:33:12]



Das Label „Bio“ ist auf dem Weg zum Standard. Wie unterscheide ich mich heute noch beim Essen?

Meine Wahlheimat Köln hat ein Problem mit ihrem Erzbischof. Der letzte, der vom Hof gejagt wurde, war Siegfried von Westerburg, allerdings im Jahre 1288. Einer seiner Nachfolger, Clemens August I. von Bayern, ließ sich gut 400 Jahre später sicherheitshalber eine stattliche Bleibe vor den Toren der Stadt errichten. Schloss Augustusburg in Brühl zählt inzwischen als UNESCO-Welterbestätte, mitsamt dem prächtigen Speisesaal und seiner aufwendig bemalten Decke. Von der darunter gelegenen Galerie, so wurde mir bei einer Besichtigung erklärt, durfte früher das ausgewählte Bürgertum dem Fürstbischof beim Speisen zuschauen.

Das sollte uns irgendwie bekannt vorkommen. Die Inszenierung von Essen und Trinken aus Statusgründen ist kein neues Phänomen. Aber wir leben in einigermaßen demokratischen Zeiten und die wenigsten von uns verfügen über ein Refektorium, von dem aus unsere Mahlzeiten aus der Vogelperspektive verfolgt werden können.

Das Restaurant, so könnte man meinen, wäre ein würdiger Ersatz. Gibt es doch plausible Theorien, dass die Grundlagen der aushäusigen Gastronomie geschaffen wurden, nachdem der Markt infolge der französischen und anderer Revolutionen mit arbeitslosen Köchinnen und Köchen geflutet worden war. Aber mal ehrlich – auch wenn Instagram und Tiktok nach wie vor nicht nur mit Kätzchen und Porno, sondern zu einem beträchtlichen Teil mit Fotografien spektakulärer Tellergerichte bestückt sind – der Besuch eines teuren Restaurants reißt niemanden mehr so richtig vom Hocker. Das, was man früher Gourmettempel nannte, ist längst demokratisiert und die soziale Hemmschwelle gründlich geschleift. Wer bezahlen kann, ist herzlich willkommen.

Die gegenwärtige Spitzengastronomie zeichnet sich demnach nicht nur durch Michelin-Sterne oder Gault-Millau-Punkte aus, sondern auch durch eine betonte Lässigkeit in Fragen der Etikette. Nach wir vor müssen in diesem Zusammenhang oft Krawatte (muss nicht mehr!) und Turnschuhe (sind gar kein Problem!) als Indikatoren herhalten, die in großen Teilen unseres zumindest in Kleidungsfragen von Klassenunterschieden bereinigten Alltags überhaupt keine Rolle mehr spielen.

Aber ob mit Schlips oder ohne, die meisten von uns müssen ihre Einkäufe selbst erledigen. Und im Lebensmittelhandel stehen wir weiterhin unter Beobachtung. Zum einen, weil von Aldi bis Rewe jeder Anbieter gerne wissen möchte, wer wir sind und was wir wann und wo kaufen. Zum anderen, weil wir genau diese Frage auch selbst ganz gerne stellen. Wer wirft in trägen Momenten in der Kassenschlange nicht gerne mal einen Blick auf die Artikel vor oder nach dem eigenen Warentrennblock?

Aber was wollen uns die regionale Tomate, der Tetrapak Hafermilch und die vegane Fleischwurst sagen? Lange waren irgendwie alternativ produzierte Lebensmittel und ihre Verkaufsstellen ein sicheres Indiz für gesellschaftliche Veränderungen – von den Reformhäusern über die ersten Kooperativen bis hin zu den ersten Discountern. Mit der weitgehenden Loslösung des Phänomens „bio“ aus der Sphäre der anthroposophischen Selbstversorgung, dem Siegeszug in die Regale der Supermärkte, vor allem aber durch die pandemisch bedingte Verlagerung der Lebensmittelbeschaffung ins Internet ist damit Schluss.

Das Label „Bio“ ist auf dem Weg zum Standard und hat als Statusmeldung ausgedient. Wir müssen uns ein neues distinktives Symbol suchen und es bleibt zu hoffen, dass es nicht die Literflasche Sonnenblumenöl für 4,95 Euro sein wird.

Johannes Arens vertritt hier Jörn Kabisch. Er ist Herausgeber des Food-Magazins Zwischengang und Kulturwissenschaftler

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