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Engagierte Literatur | Irritiert befreit


Link [2022-05-21 23:13:39]



Der Lyriker, Verleger und Peter-Huchel-Preisträger Dinçer Güçyeter stellt uns die Autorin Kaśka Bryla und ihren zweiten Roman „Die Eistaucher“ vor

Ich bin früher als geplant in Berlin, rufe Kaśka an, sage ihr, dass ich hier am Rathaus auf dem Flohmarkt bin, frage, ob sie Lust hat, zu kommen. Überall liegt Nostalgie herum: Platten, Porzellan, Bilderrahmen ... Die meisten packen schon ein, in den Gesichtern sieht man Unzufriedenheit. Dieser Ausdruck ist mir sehr bekannt. Ach so, ich, der Dinçer, der diesen Text hier schreibt. Als kleiner Verleger (wie man im Betrieb so sagt) veröffentliche ich Gedichte und so.

Kaśka Bryla erkennt mich von Weitem, dabei sehen wir uns zum ersten Mal. Auf den ersten Blick spüre ich eine Verbundenheit, so ist es manchmal, auch durch Literatur kann man Freundschaften schließen. Eine Autorin, die ich zu den besten ihrer Generation zähle, steht nun vor mir. Einen Tag später werden wir im Literaturhaus Berlin ihren zweiten Roman Die Eistaucher vorstellen. Wir holen uns „beim Chinesen“ unser Abendessen, laufen zu ihr in die Wohnung, sitzen jetzt am Küchentisch, besprechen die Veranstaltung.

Die Beziehung zwischen einem Text und seinen Leser*innen habe ich immer als intim und heilig gesehen, eine dritte Stimme sehe ich eher als Störfaktor, deshalb schlage ich Kaśka vor, dass wir nur wenig über den Roman reden, mehr über ihre Tätigkeiten als Herausgeberin und Theaterautorin. Ehrlich, ich bin auch nicht der richtige Moderator, der einen literarischen Text vor einem Publikum auseinanderpflückt.

Einen Tag später sitzen wir beide auf der Bühne und mich wurmt der Gedanke, ob meine Idee klug war, aber für ein neues Konzept ist es schon zu spät. Wir ziehen es also durch, lachen, überlegen gemeinsam … Eine Dame aus dem Publikum erwischt mich nach der Veranstaltung vor der Tür, sie will ihre Meinung mit mir teilen: „Die Autorin war großartig, Ihre Moderation war mir zu sperrig.“ Ich danke ihr für die Offenheit und frage sie, ob sie gleich mit uns Pommes essen geht, sie sagt zu ...

Zwei Jahre nach Roter Affe, ihrem rasanten politischen Debütroman, ist nun das zweite Werk Die Eistaucher von Kaśka Bryla im Residenzverlag erschienen. Schon beim Aufschlagen des Buchs wird klar, die Autorin will mehr als eine Geschichte erzählen, die Aufteilung der Kapitel löst zuerst Irritation aus, es ist ein Labyrinth, in das man den Eingang finden muss. Doch es ist nicht so kompliziert. Die Dynamik der Sprache, die Lebendigkeit der Figuren, die starken Dialoge ziehen schnell in ihre Welt, lassen nicht mehr los. Wo wir bei den Protagonist*innen sind: Die jugendlichen Außenseiter Iga, Franziska und Ras könnten leicht in die Queer-Schublade einsortiert werden, was unnötig ist meiner Meinung nach, solche Lebensgeschichten sollten einfach normal ihren Platz haben in der „aktuellen Normalität“.

Im Gespräch verrät Kaśka, dass sie Jeanette Winterson seit jungen Jahren bewundert. Ihre Nähe zur Lyrik ist nicht zu übersehen. Im Roman gibt es Grüße an Dichter wie Ingeborg Bachmann oder Arthur Rimbaud. Die Figur Ras schreibt Gedichte. Was sonst passiert? Die Freunde werden Zeugen eines brutalen polizeilichen Übergriffs, sie gründen eine verschworene Gruppe, die „Eistaucher“ kämpfen für Gerechtigkeit.

Hat diese Bewegung im Roman etwas Autobiografisches? Kaśka sagt „Nein“. In der Antike wurden Chöre als Macht gesehen, erklärt sie die Bedeutung der Gemeinschaft. Die Position einer Solistin zeige mehr den Verfall der Gesellschaft. Für Kaśka ist die kollektive Arbeit, die Produktion im Team „echter“. Sie ist Mitbegründerin der Zeitschrift PS – politisches Schreiben, bald soll die siebte Ausgabe erscheinen, mit Essays, Theaterstücken, Gedichten. Das Selbstverständnis klingt engagiert: „Politisches Schreiben meint, Fragen nach Zusammenhängen und Abhängigkeiten stellen.“ Denn: „Schriftsteller*innen sind nicht neutral.“ Jede einzelne Person sei mitverantwortlich für die Gesellschaft, sagt Kaśka, und sie redet nicht nur, sie macht auch. Seit 2016 unterrichtet sie „Kreatives Schreiben“ in Gefängnissen und für Geflüchtete.

Spätestens jetzt will ich mehr über ihren Werdegang erfahren. Nach der Wende in Polen ziehen die Eltern, der Vater Ingenieur, die Mutter technische Zeichnerin, nach Österreich. Aufwachsen zwischen Wien und Warschau, die innere Zerrissenheit bleibt. Kaśka macht nach der Schulausbildung ihr Diplom als Volkswirtin, zieht nach Frankreich, lebt dort eine Weile auf dem Land. Der Gedanke reift, sie will schreiben. In der Stadtbibliothek Wien liest sie alle möglichen Schreibratgeber, sie bewirbt sich am Literaturinstitut in Leipzig, wird angenommen. Auf meine Frage, ob das Institut zeitgemäß auf den Schriftstellerberuf vorbereite, antwortet sie, ohne zu zögern: „Ich habe wunderbare Menschen kennengelernt, die mich inspiriert, auf diesem Weg begleitet haben und immer noch eine wichtige Rolle spielen“ – politisches Schreiben jedoch gelte auch in Leipzig immer noch als Synonym für schlecht. Doch besonders jetzt, wo die Welt aus den Fugen gerate, brauche es politische Texte.

Guy de Maupassants Erzählung Horla als Andeutung für die gegenwärtigen Brüche, für die Ignoranz und Selbstgerechtigkeit der Weltpolitik zieht sich durch den gesamten Roman. Gibt es noch einen Fluchtkorridor oder erlebt das Gute im Menschen gerade eine Gefangenschaft? Die Figuren hinterfragen ihre Moral immer wieder mit dem Auftritt der mythlogischen Figur Daidalos. Was wird von der Gesellschaft akzeptiert, wie weit kann man gehen, welche Rolle spielt die Angst vor diesen Erwartungen, ist der Mensch von Natur aus anfällig für Gewalt?

Hier sehe ich das große Können der Autorin, mit großartigen Metaphern schafft sie für ihre Figuren große Räume. Sie zeigt die Unruhe der Welt, den Wechsel der Gesellschaft, lakonisch, manchmal surreal, ohne jemals plakativ zu werden. Alles ist in Aufruhr, doch die ganze Bewegung im Text ist mit einer Tschechow’schen Sensibilität unterlegt. Die Ehrlichkeit der Figuren, die sich nicht scheuen, trotz ihrer Schwächen zu handeln, macht sie glaubhaft. In Zeiten der Social-Media-Generation, wo alles glamourös verpackt wird, kann man diese Schwächen als Stärke und Mut begreifen.

Gekonnt die Lava aufgehalten

Beim Lesen von Die Eistaucher habe ich meine Gedanken zu Kaśkas Debüt Roter Affe schweifen lassen, mehr aus Neugier: Wo hat die Autorin begonnen, wo möchte sie hin? Eins kann man zweifellos sagen: Beide Romane sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, der unbeirrbare Erzählcharakter der Autorin ist bemerkenswert. Besonders im Eistaucher gerät die Handlung jedoch unkalkulierbar. Ein Monolog, der auf einem Campingplatz beginnt, lässt das Beben in kommenden Kapiteln erahnen. Gekonnt wird die Lava bis zu den letzten Seiten von der Autorin aufgehalten, mit dem Ausbruch sieht man als Leser*in noch einmal, wie durchdacht jede Zeile mit der nächsten verwoben wurde, mit welcher Sensibilität den Figuren Leben eingehaucht wurde. Man möchte mit jeder Figur einen weiteren Spaziergang machen, mehr erfahren, mehr lesen.

Meine letzte Frage auf der Buchvorstellung an Kaśka Bryla, ob diese Verletzlichkeit auch als Opposition gesehen werden kann, beantwortet sie mit einem Wort: „Ja!“ Bei ihrem Debüt wusste ich schon, diese Autorin wird uns etwas Neues erzählen, bei ihrem zweiten Roman Die Eistaucher kocht in mir der Wunsch, dass sie mehr schreiben möge, dass sie uns weiter mit der Zärtlichkeit ihrer Sprache, ihren Figuren den Mut gibt, ungeschminkt in den Spiegel zu schauen.

Info

Die Eistaucher Kaśka Bryla Residenzverlag 2022, 320 S., 24 €

Dinçer Güçyeter, geboren geb. 1979 in Nettetal, ist Verleger und Schriftsteller. Sein Lyrikband Mein Prinz, ich bin das Ghetto wurde mit dem diesjährigen Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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