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Energiewende | Energiecharta-Vertrag: In den Fesseln der Fossilen Industrie


Link [2022-06-27 23:01:46]



Das in den 1990ern geschaffene Abkommen garantiert einen freien Energiemarkt. Und erlaubt Fossilen Unternehmen Staaten für ihre Klimapolitik auf Milliarden zu verklagen. Wie kommen wir da raus?

Die aktivistische Klimagerechtigkeitsbewegung erhält vermehrt Zulauf von Wissenschaftler:innen, die längst nicht mehr all ihre Hoffnung in das Erforschen und Vermitteln von Klimawissenschaft legen. Sie sind frustriert, sauer, und verärgert, dass die Fakten, die sie über die Klima- und Biodiversitätskrise tagtäglich an die Öffentlichkeit bringen, nicht die politischen Konsequenzen herbeiführen, die es bedarf, um die schlimmsten Folgen noch aufzuhalten und die am stärksten bedrohten Gesellschaften und Ökosysteme zu schützen. Grund dafür sind politische Pfadabhängigkeiten, wirtschaftliche Machtinteressen, Rechtssysteme und groß aufgezogene Lobbyorganisationen.

Eines der dringlichsten institutionellen Blockaden zu effektiver Klimapolitik ist der so genannte Energiecharta-Vertrag (ECT), der Ende der 1990er in Kraft trat und die EU-Staaten sowie 53 weitere Länder den finanziellen Interessen der Fossilen Lobby unterwirft. Als der Vertrag 1991 entworfen wurde, lag das politische Interesse der Signaturstaaten darin, die ost- und westeuropäischen Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion in einen gemeinsamen Energiemarkt einzubinden, um somit für Annäherung und Stabilität zu sorgen. Energiepolitisch erhofften sich die Staaten Westeuropas, deren Märkte abhängig von Energieimporten sind, somit ein kontinuierliches Angebot an fossiler Energie zu sichern. Aus wirtschaftspolitischer Sicht sollte der Vertrag den energieexportierenden Staaten Osteuropas fortlaufende Profite durch einen rechtlichen Investitionsschutz sichern.

Hierfür hat der Energiecharta-Vertrag ein eigenes Schiedsgericht eingeführt, wie es etwa aus dem Sport bekannt ist. Durch sogenannte „Investor-Staat-Streitbeilegung“ (ISDS) können Investoren Staaten in privaten Schiedsverfahren auf milliardenhohen Schadensersatz verklagen, wenn diese ihre Gesetzeslage auf eine Art und Weise verändern, die den Profit der Energieunternehmen verringern würde. Beispielsweise, für den Klimaschutz, den Schutz lokaler Ökosysteme oder gegen die Zwangsräumung von Dörfern, die dem Kohlebagger weichen müssen. Egal wie notwendig die Gesetzesänderung aus sozial-ökologischer Sicht auch sei, Investoren können Staaten verklagen. Und das tun sie auch. So wurde Russland 2012 beispielsweise durch den Ölkonzern Yukos auf einen Schadensersatz in Höhe von 50 Milliarden Dollar verklagt. Laut Investigative Europe ist dies etwa die gleiche Summe, die der russische Staat für die Gesundheitsversorgung von 95 Millionen Bürger:innen pro Jahr bereitstellt.

Meistens reicht die Drohung mit einer Klage unter dem Energiecharta-Vertrag

Als sei diese perfide Rechtslage nicht schon genug, hat der ECT durch eine sogenannte Zombie-Klausel für sein Fortbestehen vorgesorgt. Auch wenn Staaten aus dem Vertrag aussteigen, können Energieunternehmen sie um 20 weitere Jahre verklagen. Dies war zum Beispiel in Italien der Fall, wo der britische Öl- und Gaskonzern Rockhopper das Land nach seinem Austritt aus dem Vertrag 2015 auf einen Schadensersatz verklagte, weil dieses Offshore-Bohrungen entlang seiner Küste verbieten wollte. Die Liste der bereits vollzogenen Streitbeilegungen ist lang. Viel gravierender ist jedoch der sogenannte „Chilling Effekt“ den die Fossilen Unternehmen allein durch die Androhung einer Klage unter dem ECT auf Länder auswirken. So legte Frankreich 2017 etwa ein ambitiöses Klimaschutzgesetz auf Eis, nachdem der Kanadische Ölkonzern Vermillion die Regierung mit einem Verweis auf den ECT unter Druck setze. Yamina Saheb, Wistleblowerin des ECT und IPCC Hauptautorin, spricht deshalb von einem „Ökozid Vertrag“.

Nun soll der ECT modernisiert werden, um Staaten mehr Freiraum für Klimaschutzpolitik und den Ausstieg aus Fossilen Energieträgern zu gewähren. Letzte Woche fanden hierzu weitere Verhandlungen in Brüssel statt. Diese Art von Modernisierung wird sozialgerechten Klimaschutz jedoch nicht voranbringen. Denn für eine gerechte Transformation ist nicht nur entscheidend, den gesamtgesellschaftlichen CO2-Ausstoß zu verringern. Auch die demokratische Teilhabe über die Verteilung eines Energiebudgets und staatlicher Haushalte muss Bürger:innen gewährt werden, wenn Klimaschutzpolitik verträglich und mehrheitsfähig gestaltet werden soll. Anstelle einer Machtverschiebung sieht der Modernisierungsplan jedoch vor, Fossilen Unternehmen weiterhin die Möglichkeit zu geben, Klimaschutzpolitik mitzubestimmen, obgleich diese auf nationaler Ebene häufig schon Entschädigungen für Klimaschutzgesetze bekommen und sowieso längst der Vergangenheit angehören sollten.

Warum modernisieren wir etwas, um denjenigen weiterhin Macht zu ermöglichen, die sie nicht mehr haben sollten? Weil sich Europäische Wirtschaftliche Expansionspolitik in ein Patt manövriert hat: Energiesicherheit hieß, und heißt immer noch, so viel Energie wie möglich zu produzieren, um energieintensive industrielle Prozesse anzufeuern und so beispielsweise die deutsche Exportwirtschaft zu stützen. Tatsache ist auch: Die EU will gar nicht gegen die Fossile Energie vorgehen. Das ist spätestens seit dem Versuch der Von-der-Leyen Administration klar, die fossiles Erdgas zur grünen Energie erklärt hat. Bürger:innen sollten das aber anders sehen: sei es, um für den Klimaschutz einzutreten, demokratische Prozesse vor der Macht von Lobbykonzernen zu schützen, oder für eine sozial-gerechte Verteilung von Energie und Finanzen einzutreten. Statt einer Modernisierung ist der sofortige Austritt aller EU-Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag somit die einzige Lösung, die den Werten des Klimaschutzes, der Demokratie, und der sozialen Gerechtigkeit gerecht wird. Spanien und die Niederlande haben sich nun als erstes offen dafür ausgesprochen, diesen Schritt zu gehen.Die deutsche Regierung sprach sich bislang zwar nicht deutlich für den Ausstieg aus dem ECT aus. Sie stellte jedoch am Donnerstag eine neue Handelsagenda vor, die auch fünf Punkte zum ECT enthält – und vier von diesen wären laut PowerShift e.V. auch mit einer durch die EU modernisierten Fassung des Vertrags nicht kompatibel. Das deutet darauf hin, dass auch die Ampel einen Ausstieg erwägen dürfte.

Céline Keller macht die Zusammenhänge in einem Comic verständlich

Um einen Ausstieg politisch zu forcieren, bräuchte es jedoch eine Zivilgesellschaft, die diesen Verstrickungen vehement entgegentritt. Julia Steinberger, Klimawissenschaftlerin an der Universität Lausanne und ebenfalls IPCC Hauptautorin, sieht das Problem insbesondere in der Intransparenz des quasi-legalen Systems: „Der Vertrag über die Energiecharta ist das wohl größte und undurchsichtigste Hindernis für den Klimaschutz”. Die deutsche Comic-Zeichnerin und Klimaaktivistin Céline Keller hat hierzu einen umfangreichen Comic veröffentlicht. In einem Interview mit Dave Vetter erklärt sie: „Ich versuche zu zeigen, dass diese Dinge zwar kompliziert, aber viel leichter zu verstehen sind, wenn man den Kontext kennt. Es ist viel einfacher, ein Thema zu erklären, wenn wir Geschichten erzählen. Und die Geschichten sind da, wenn man nur hinschaut." Steinberger hält Bürger:innen dazu an, „den Comic zu lesen, ihn zu teilen, und Politiker:innen zu überzeugen, den ECT zu stoppen!" Auch Investigativ Journalistin Amy Westervelt legt wert auf die Sichtbarmachung dieses „schattenhaften Systems (...) von dem die meisten menschen nicht einmal wissen, dass es existiert, geschweige denn, wie es funktioniert. Wenn wir die Hoffnung hegen wollen, es zu entschärfen, müssen wir die Leute darüber aufklären, was hier passiert.“

Der Comic ist eine Pflichtlektüre, für alle, die den Energiecharta-Vertrag verstehen wollen, also alle, die sich für Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, und demokratische Teilhabe einsetzen. Das Lesen reicht jedoch nicht. So wie Klimawissenschafler:innen den Aktivismus zu einem wichtigen Teil ihres Auftrags machen, so sollten auch Zeitungsautor:innen und deren Leser:innen sich nicht mit Wissen allein zufrieden geben. Sie und ich sollten also auf die Straßen gehen, und unsere Politiker:innen dazu bringen, aus dem ECT auszusteigen.

Während der ECT Länder unter außer-staatlicher Gerichtsbarkeit an die Interessen der Fossilen Unternehmen bindet, sollten Bürger:innen ihre Regierungen zur Verantwortung ziehen, stattdessen die rechtlich bindenden Vorgaben nationaler und internationaler Klimaschutzgesetze einzuhalten. Genau das tun gerade fünf junge Menschen, die Opfer von Klimakatastrophen geworden sind: Sie klagen 12 EU-Länder vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an, durch deren Mitgliedschaft im ECT Vertrag grundlegende Menschenrechte zu verletzen. Es braucht Mut wie diesen – ob im Gerichtssaal, in der Wissenschaft oder über dem Zeichenblock – um die Fossile Industrie zu entmachten.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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