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Energieversorgung | Der völlige Verzicht auf Erdgas und Öl aus Russland grenzt an wirtschaftlichen Selbstmord


Link [2022-06-17 22:31:23]



Je weniger Erdgas aus Russland bezogen wird, desto stärker der Preisschub. Die gedrosselte Liefermenge von Gazprom sollte als Alarmzeichen verstanden werden

Empörung und Erregung sind keine guten Ratgeber in der Politik. Als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine trafen die EU wie auch die Bundesregierung eine Reihe fataler Entscheidungen, die das Ende des deutschen Wohlstandes einleiten könnten. Allen voran die Beendigung der Energiepartnerschaft mit Russland. Die hatte immerhin ein halbes Jahrhundert Bestand, seit sowjetischen Zeiten, ungeachtet des Kalten Krieges. Doch nun glauben hiesige Entscheider, bis spätestens Ende des Jahres von russischem Erdöl und Erdgas unabhängig werden zu müssen. Wer allerdings vermeintliche Moral über nationale Interessen stellt, ein sehr deutsches Phänomen, der riskiert den wirtschaftlichen Selbstmord.

Der Westen ist nicht die Welt

Billige Energie aus Russland war über Jahrzehnte der Motor der deutschen Industrie, die Grundlage ihrer Wettbewerbsfähigkeit und Exportstärke. Diese Abhängigkeit war allen Entscheidern bewusst. Sie wurde aber in Kauf genommen, da Moskau die konkurrenzlos billigen Energielieferungen nie politisiert hat – das geschah erstmals als Reaktion auf westliche Sanktionsmaßnahmen. Mit Russland politisch wie wirtschaftlich vollständig brechen zu wollen, ohne über ausreichende alternative Energiequellen zu verfügen: Das zeugt nicht von höherer Moral, sondern von sträflicher Dummheit. Die viel beschworenen erneuerbaren Energien werden erst in Zukunft Teile der Energieversorgung gewährleisten.

Der Sanktions-Fetischismus in Berlin oder Brüssel wird nur noch getoppt von der realitätsfernen Annahme, der westliche Boykott russischer Energie werde „Putin“ in die Knie zwingen. Was allein deswegen nicht geschieht, weil die Welt aus mehr als dem Westen besteht. Nicht einmal enge Verbündete der USA – Israel etwa oder Saudi-Arabien – beteiligen sich am Russland-Boykott, die Schwergewichte China und Indien ohnehin nicht.

Verknappt sich das Angebot, erhöht sich bekanntlich der Preis der Mangelware. Genau das geschieht seit Kriegsbeginn – maßgeblich als Folge westlicher Boykottmaßnahmen. Da die Boykotteure anderswo einkaufen müssen, hat allein deren Ankündigung Spekulanten weltweit auf den Plan gerufen und die Preise für Erdöl, Erdgas und auch Kohle zusätzlich in die Höhe getrieben. Den Preis für den politisch gewollten Eingriff in globale Versorgungsabläufe zahlen schlussendlich die Verbraucher weltweit, auch in Gestalt einer dauerhaften Inflation und von Versorgungsengpässen.

Deutschlands wirtschaftliche Achillesferse ist und bleibt die Abhängigkeit von russischem Erdgas, auf das rund 40 Prozent des hiesigen Energieverbrauches entfallen. Hierzulande herrscht der unerschütterliche Irrglaube, dieses Gas sei mehr oder weniger mühelos durch Flüssiggas etwa aus Katar und den USA zu ersetzen. Wirtschaftsminister Robert Habeck reiste im März nach Doha, um dort katarisches Flüssiggas einzukaufen. Ikonisch sein Bückling vor dem dortigen Emir – Selbsterniedrigung ersetzt die fehlende politische Strategie. Der katarische Energieminister Al-Ka’abi redete auf dem Doha-Forum, der dortigen Davos-Variante, wenig später Klartext. Europa könne frühestens 2026 mit umfassenden Flüssiggas-Lieferungen rechnen. Erst müsse Katar neue Erdgasreserven erschließen. Da sein Land langfristige Lieferverträge mit Ostasien geschlossen habe, seien kurzfristige Lieferungen nicht möglich. Perspektivisch könne Deutschland zwei bis fünf Prozent seines Erdgasbedarfes aus Katar beziehen. Grundsätzlich aber, so Al-Ka’abi, sei russisches Gas weder für Deutschland noch für Europa vollständig aus anderen Quellen zu ersetzen.

Eine bemerkenswerte Aussage aus dem Mund des katarischen Energieministers – ungehört in Deutschland, wo nicht sein kann, was nicht sein darf. Wollte Europa seinen Gasbedarf vollständig aus Flüssiggas decken, das mindestens drei- bis fünfmal teurer ist als Pipeline-Gas, an den Spotmärkten auch dreißigmal und mehr, bräuchte es mehrere Hundert zusätzliche Tanker für dessen Transport. Wo sollen die herkommen? Wer wollte die bezahlen? Wie viele Jahre würde es dauern, bis diese Flotte in Betrieb gehen könnte? Dennoch hat die EU-Kommission eine „strategische Energiepartnerschaft“ mit den USA vereinbart, um von dort umweltschädlich gefördertes Frackinggas, die schmutzigste Form der Gasförderung, mit bislang nicht ausreichend vorhandenen Tankern verflüssigt und überteuert nach Europa zu liefern. Die Gaspipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb zu nehmen, vermutlich auch dann nicht, wenn der Krieg in der Ukraine vorbei sein wird, um stattdessen nicht ausreichend vorhandenes und wesentlich teureres Flüssiggas zu importieren: Jeder intelligente Zehntklässler würde da wohl ins Grübeln kommen.

Die Bundesregierung investiert Milliarden, um Flüssiggasterminals an verschiedenen Standorten in Norddeutschland zu errichten. Die Privatwirtschaft war daran nie interessiert – zu teuer, zu unrentabel. Doch nun wird das erste LNG-Terminal in Wilhelmshaven laut Plan 2025 in Betrieb gehen, vom Steuerzahler subventioniert. Wie aber soll die deutsche Industrie angesichts astronomisch steigender Energiekosten wettbewerbsfähig bleiben? Das ginge nur mit dauerhaften Milliardensubventionen, einer unbegrenzten Staatsverschuldung. Hat jemals ein hiesiger Politiker die naheliegende, doch so gut wie nie gestellte Frage beantwortet: Wie soll das Flüssiggas dereinst von der Küste nach Bayern oder NRW gelangen?

Die chemische Industrie in Deutschland, ohne die kaum ein Wirtschaftszweig auskommt, ist auf sibirisches Gas eingestellt. Das aber hat eine andere chemische Zusammensetzung als Flüssiggas, beide sind nicht miteinander kompatibel. Sollten die russischen Gaslieferungen tatsächlich entfallen, gehen hierzulande dauerhaft die Lichter aus. In dem Fall, so Kanzler Olaf Scholz, stünden in Deutschland Millionen Arbeitsplätze auf dem Spiel.

Nächstes Ziel China

Nicht allein der Krieg in der Ukraine und die unklugen Reaktionen darauf sind verantwortlich für die Wohlstandszerstörung in Europa und den Hunger im Globalen Süden, als Folge insbesondere entfallender Weizenlieferungen. Hinzu kommen allen voran die wiederholten Unterbrechungen weltweiter Lieferketten und der billionenschwere Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB seit 2008, was die Inflation zusätzlich anheizt. Dennoch nehmen die Moralapostel in Politik und Medien bereits das nächste Ziel ins Visier und empfehlen der Exportnation Deutschland Handelsbeschränkungen mit China. Ein wenig erinnert Deutschland in diesen Wochen an die Titanic. Die Eisberge sind längst in Sicht, das Salonorchester spielt, doch das Schiff setzt seinen fatalen Kurs unbeirrt fort.

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