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Endzeit-Epos | Dystopische Wucht


Link [2022-01-22 19:40:11]



Starautorin Hanya Yanagihara legt ein neues Werk vor. Der Titel verspricht „Zum Paradies“ zu führen

Mit Ein wenig Leben, dem 2015 im englischen Original und 2017 in der deutschen Übersetzung erschienenen Roman, wurde die 1974 geborene Journalistin Hanya Yanagihara zur Starautorin und Auflagenmillionärin. Ihre kontrovers diskutierte Schilderung einer Freundschaft zwischen vier Collegefreunden, unter ihnen Jude, der in seiner Kindheit missbraucht wurde und nicht aufhören kann, sich selbst zu misshandeln, hat sich bis heute allein in der deutschsprachigen Ausgabe über 250.000 mal verkauft. Adjektive wie „erschütternd“, „lebensverändernd“, „überwältigend“ fielen häufig im Zusammenhang mit diesem Roman, dem andererseits vorgeworfen wurde, er sei „bombastisch“ und manipuliere die Gefühle seiner Leser. So zwiespältig das Urteil ausfiel – klar ist, dass der dritte Roman Yanagiharas, der zeitgleich im Original und in der deutschen Übersetzung von Stephan Kleiner erscheint, von den Fans von Ein wenig Leben sehnlich erwartet wurde. Sein Titel Zum Paradies ist anspielungsreich. Das Paradies, der Ort, an dem Unschuld und Frieden herrschen, ehe die Sünde in Gestalt der Schlange Adam und Eva zur Erkenntnis, aber auch in die Schuld lockt, führt in seinem Kielwasser nicht nur die Sehnsucht nach einem Ort, wo die Menschen seit dem Sündenfall nicht mehr sein können, sondern auch eine lange literarische Tradition, die von Dantes Göttlicher Komödie bis John Miltons epischem Gedicht Das verlorene Paradies reicht.

Der Roman umfasst fast 900 Seiten, man verliert leicht den Überblick: In drei Teilen schildert Zum Paradies drei Szenarien der US-amerikanischen Gesellschaft mit jeweils hundert Jahren Abstand. In Washington Square ist New York im Jahr 1893 ein freier Staat, in dem gleichgeschlechtliche Ehen legal und normal sind. Der reiche Erbe David Bingham soll, dem Willen seines Großvaters folgend, eine Vernunftehe mit dem älteren Charles eingehen. Doch nachdem die beiden sich einander angenähert haben, trifft David den charmanten Edward, einen Verführer par excellence, und verliebt sich in ihn. So kommt es anders, als der Großvater es sich vorgestellt hat.

Der tiefe Wunsch nach Glück

Der zweite Teil, Lipo-wao-nahele, was Hawaiianisch ist, „der dunkle Wald“ bedeutet und damit erneut auf Dante anspielt, nimmt seinen Ausgang im New York des Jahres 1993, unternimmt aber auch Rückblenden in das Hawaii der vorangegangenen Jahrzehnte. Auch im zweiten Teil steht ein David Bingham im Mittelpunkt. Mit seinem Partner, dem Anwalt Charles Griffiths, ist er Teil einer schwulen Community, in der AIDS grassiert. Zwar ist David Nachkomme einer hawaiianischen Königsfamilie, aber schüchtern und scheu, was mit seinem Vater zu tun hat, dessen Geschichte in einem Brief erzählt wird: Der Vater hat gemeinsam mit seinem Freund Edward in Hawaii auf dem unwirtlichen Landstück Lipo-wao-nahele ein Königtum zu inszenieren versucht und wie seine Vorfahren regieren wollen, ehe Hawaii durch die Vereinigten Staaten annektiert wurde. Zone acht, der dritte Teil von Zum Paradies, ist Science-Fiction. New York steht im Jahr 2093 unter totalitärer Herrschaft. Pandemien wüten, der Klimawandel hat die Erde aufgeheizt, Fleisch ist Mangelware, die Nahrung rationiert, das Internet abgeschafft. Informationen werden exklusiv von der Regierung kontrolliert und verteilt. Die Stadt ist in Zonen unterteilt, ihre Bewohner werden überwacht, um weitere Seuchen zu verhindern, sie einzudämmen. Die junge Charlie, Namensvetterin von Charles aus Teil eins und zwei und eine postmoderne, melancholisch-kränkelnde Variation von Virginia Woolfs genderfluidem Orlando, ist wissenschaftliche Assistentin, eine Forschungsmauspräparatorin. Charlie, die von ihrem Großvater, einem Forscher, der von der Regierung hingerichtet worden ist, großgezogen wurde, ist verunstaltet und steril von den Folgen einer pandemischen Erkrankung. Sie lebt mit ihrem schwulen Mann Edward in einer Vernunftehe. Nachdem sie bemerkt, dass er fremdgeht, trifft sie den Geschichtenerzähler David. Auch diese Begegnung führt zu einer unerwarteten Wendung.

In der Fülle der Themen von sexueller Orientierung über Kolonialismus bis zur Pandemie und in seiner überbordenden Erzählweise macht es einem Yanagiharas Roman nicht leicht, erst recht nicht im Versuch, zu verstehen, wie die namensgleichen Figuren über zwei Jahrhunderte miteinander in Beziehung stehen, ob, und wenn ja, was sie außer den Namen noch verbindet, wie die drei Teile des Buches zusammenzudenken sind. In allen teilt sich der tiefe Wunsch nach einem glückliche(re)n Dasein mit: Wo David im Jahr 1894 für die erotische Erfüllung Besitz, Status und Familie in den Wind schießt, sind David senior und David junior im zweiten Teil auf der Suche nach einem identitätsstiftenden Ort, nach einer Heimat, die sie nie hatten oder verloren haben: Charlie, die Hauptprotagonistin aus Zone acht, irrt durch eine Welt, deren Atmosphäre von Bespitzelung, Kontrolle und Angst geprägt ist, die kalt und rational ist. Sie wünscht sich mehr Wärme, mehr Aufmerksamkeit, wie sie sie als Kind von ihrem Großvater erfahren hat.

Die Welt in Zone acht ist eine, in der die Wissenschaft zur Religion geworden ist und in der sich in der unablässigen Folge von Krankheiten der Modus des Lebens in einen des Überlebens verwandelt hat – und damit die individuelle Wahrnehmung und alle Beziehungen: „In der Welt, in der wir heute leben, geht es ums Überleben, und Überleben findet immer im Jetzt statt. Die Vergangenheit spielt keine Rolle mehr; die Zukunft hat sich nicht eingestellt. Überleben lässt Hoffnung zu – tatsächlich gründet es auf Hoffnung –, aber es lässt kein Vergnügen zu, und als Gesprächsthema ist es uninteressant.“

Science-Fiction ist in der Imagination der Zukunft stets als zugespitzte Gegenwartsdiagnose zu lesen. So ist Yanagiharas Roman ein bitterer Abgesang auf die Welt vor dem Ausbruch der Pandemie. Schon in ihrer Vorrede zur deutschen Ausgabe ihres Debütromans Das Volk der Bäume (2019) hat die Autorin, Tochter eines Arztes und Forschers und von Kind an vertraut mit deren Erkenntnisinteressen, ihren Zweifel geäußert an einem „Zeitalter, in dem allein eine künstlich auferlegte Ethik die medizinische Forschung einhegt“. Vor der Wissenschaft zurückzuschrecken, habe Tode zur Folge, ihr zu huldigen, habe andere Tode zur Folge, hieß es dort weiter. Dieses unauflösliche Dilemma dekliniert Zum Paradies auf der Folie einer Covid-19-ähnlichen Pandemie erneut durch und formuliert dabei eine scharfe Kritik an einem Fortschrittsglauben, dem Altruismus und die Nächstenliebe zum Opfer gefallen sind und in der die Individuen in beklagenswertem Licht erscheinen: „Die Krankheit hat uns in jeder Hinsicht darüber aufgeklärt, wer wir sind; sie hat die Fiktionen enthüllt, die wir alle in Bezug auf unser Leben konstruiert haben. Sie hat enthüllt, dass dieser Fortschritt, diese Toleranz nicht zwangsläufig mehr Fortschritt oder Toleranz erzeugt. Kein Gesetz, keine Veränderung, kein Ausmaß an Liebe war stärker als unser eigenes Bedürfnis, zu überleben, oder bei den Großzügigeren von uns, unser Bedürfnis nach dem Überleben der Unseren, wer auch immer sie sein mochten.“

Man muss das Pathos und die märchenhaften Elemente des Romans, der ein wenig an Popmusik erinnert, die mit klassischen Instrumenten aufgeführt wird, nicht mögen, kann seine Beredtheit nervig finden, sich von seinen Thesen zum Widerspruch aufgefordert fühlen. Seine dystopische Wucht, die in einer grellen Rache- und Rettungsfantasie gipfelt, ist allerdings unausweichlich. Paradiesvorstellungen werden bei Yanagihara schon prospektiv, in die Zukunft hinein, ad absurdum geführt. Die Schuld als kollektive und individuelle ist zu groß geworden, als dass die Menschen sie noch länger tragen oder gar sublimieren könnten. Immer deutlicher tritt ihrer aller Einsamkeit hervor, die nicht nur in der hexenbesenhaft entfesselten Hoffnung darauf gründet, dass sich das Glück finden ließe, sondern auch in der Erfahrung, dass einem die Nächsten und Liebsten oft am allerfernsten sind, dass sich in ihnen zu täuschen, von ihnen getäuscht zu sein, die größte Enttäuschung bedeutet. Dennoch ist das Glück, wie schon in Ein wenig Leben, am ehesten in den Beziehungen zu finden, die von Respekt und bedingungsloser Loyalität getragen sind, es können freundschaftliche sein, oder, und das ist neu in Yanagiharas Werk, familiäre Beziehungen, wie die zwischen Charlie und ihrem Großvater. Und doch: Zum Paradies bleibt ein Roman extremer Fremdheit und Befremdung im Privaten und Gesellschaftlichen, der, indem er über die Dialektik der Aufklärung nachdenkt, letztlich von ihrem Scheitern erzählt.

Zum Paradies Hanya Yanagihara Stephan Kleiner (Übers.), Claasen Verlag 2022, 896 S., 30 €. Erscheint am 11. Januar

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