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Einsamkeit | Ältere Frauen in der Ukraine: Die Vergessenen des Krieges


Link [2022-05-27 18:34:11]



Ein Leben lang kümmern sie sich um andere, nun kümmert sich keiner um sie. Zwei Millionen ältere Frauen sitzen im Kriegsgebiet fest

Halyna Vasylivna lebt allein in einer winzigen Chruschtschowka-Wohnung in Kiew. Mit 94 hat sie nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Söhne überlebt, und ihre Enkelkinder leben außerhalb der Stadt. Die Wohnung, die nach dem sowjetischen Staatsführer Nikita Chruschtschow benannt ist, unter dem die fünfstöckigen Plattenbauten im Stadtviertel Podil gebaut wurden, liegt für sie unerreichbar weit von einem Bunker entfernt. Daher versteckt sich Vasylivna bei Luftangriffen in ihrer Vorratskammer.

Für die Besuche ihrer Sozialarbeiterin Olya, die einige Male in der Woche vorbeikommt, ist die alte Dame dankbar. Aber sie wünschte, sie würde nicht allein leben: „Es ist wichtig, jemanden zu haben, der einem zuhören kann.“

Überleben mit Minirente

Vasylivna ist eine von zwei Millionen älteren Frauen in der Ukraine, die für die Behörden zum großen Teil unsichtbar bleiben. Die meisten älteren Menschen in der Ukraine sind Frauen. Sie stellen zwei Drittel der Altersgruppe der über 65-Jährigen und sogar 71 Prozent der über 75-Jährigen – auch weil die Ukraine den sechsthöchsten Frauenanteil der Welt hat.

Diese Frauen leben von einer winzigen staatlichen Rente – Vasylivnas beträgt rund 150 Euro im Monat – und sind auf die Unterstützung von Sozialdiensten, Hilfsorganisationen und internationalen Institutionen angewiesen. Sie sind mittlerweile die Gruppe von Menschen, die mit höchster Wahrscheinlichkeit allein ist. Gründe dafür sind unter anderem Fortbewegungsprobleme, ein verstorbener Partner oder dass sie nicht bereit sind, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen. Einige Glückliche erhalten Hilfe, viele aber nicht. Das Gesundheits- und Sozialversorgungssystem der Ukraine war schon vor der russischen Invasion im Februar unter Druck. Es gab Reformen, die auch Fortschritte brachten. Eine Dezentralisierung etwa ermöglichte es regionalen Institutionen, Gelder lokal zuzuteilen. Dennoch ist das überlastete und unterfinanzierte Gesundheitssystem erneut in der Krise. Die Gesundheitsausgaben der Ukraine gingen von 7,8 Prozent des BIP im Jahr 2015 auf 7,1 Prozent im Jahr 2019 zurück (das sind die letzten verfügbaren Zahlen). Zum Vergleich: Der Weltdurchschnitt lag 2019 bei 9,8 Prozent. Dazu kommt die derzeitige humanitäre Krise in der Ukraine. Unter anderem gibt es Dutzende Berichte über Vergewaltigungen und Morde an älteren ukrainischen Frauen – der größten zurückgelassenen Gruppe im Land, die fliehen darf, aber am wenigsten dazu in der Lage ist.

Eine „krasse Zahl“

Geflüchtete Wegen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine sowie anderer tödlicher Konflikte in Burkina Faso, Äthiopien, Myanmar, Nigeria und Afghanistan ist die Zahl der durch Gewalt vertriebenen Menschen weltweit erstmals seit Beginn der Aufzeichnungen auf mehr als 100 Millionen gestiegen. Das teilte das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) in Genf mit. „100 Millionen ist eine krasse Zahl – ernüchternd und alarmierend zugleich. Es ist ein Rekord, den es niemals hätte geben dürfen“, sagte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. Infolge des Kriegs in der Ukraine sind in diesem Jahr acht Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben worden, mehr als sechs Millionen Menschen seien aus der Ukraine geflohen.

In Kiews Stadtteil Holosiyevo leben 786 ältere Leute, 80 Prozent von ihnen sind Frauen wie Vasylivna: allein, nicht in der Lage, ihre Wohnung zu verlassen, und ohne Verwandte, die sich um sie kümmern. Seit Russlands Angriff hat sich die Zahl der Sozialarbeiter:innen im örtlichen Sozialzentrum auf weniger als ein Viertel reduziert. Die Frauen, die dableiben, sind meistens selbst älter und haben jetzt viermal so viele Leute zu betreuen wie zuvor. Mit fünf Tagen Arbeit in der Woche verdienen sie rund 200 Euro im Monat, um ihre kleine staatliche Rente aufzubessern. „Wir müssen unsere älteren Klienten und uns selbst unterstützen“, erklärt die 65-jährige Sozialarbeiterin Nataliya Bodnar. Die Leiterin des Sozialzentrums, Oksana Ruban, berichtet von den vielen Problemen, mit denen sie konfrontiert sind: „Der öffentliche Nahverkehr stand still. Manchmal dauerte die Ausgangssperre mehrere Tage lang. Auch Geschäfte waren geschlossen. Wir mussten sicherstellen, dass sich um alle, die wir betreuen, irgendjemand kümmerte – wenn nicht Verwandte oder wir, dann wenigstens Nachbar:innen oder freiwillige Helfer:innen. Wir haben alle unermüdlich gearbeitet.“

Nur den Hamster retten

Besonders kritisch ist die Lage für ältere Leute in den Regionen Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine. Dort machte eine Umfrage unter mehr als 1.500 über 60-Jährigen im März das Ausmaß des Problems deutlich: 99 Prozent wollen ihr Zuhause nicht verlassen; 91 Prozent brauchen Hilfe dabei, sich mit Essen zu versorgen; 91 Prozent leiden unter extremer Kälte, weil die Heizung wegen der Stromausfälle nicht funktioniert; 75 Prozent benötigen einfache Hygieneprodukte; und 34 Prozent brauchen dringend Medikamente zur Behandlung chronischer Krankheiten. Verschärft wird die Not noch durch den Mangel an wichtigen Medikamenten und die Zerstörung von Gesundheitseinrichtungen durch Russland.

„Ich frage mich, warum manche jungen Leute ihre Katzen und Hamster mitnehmen, wenn sie weggehen, aber ihre Eltern zurücklassen“, sagt Roman Vodyanyk, Chefarzt am Sewerodonezk-Hospital in Luhansk, dem einzigen funktionsfähigen Krankenhaus, das der Stadt geblieben ist. Mehr als 50 Patient:innen werden noch versorgt. Obwohl es in Sewerodonezk weder Wasser noch Gas oder Strom gibt, hat Vodyanyk die Klinik in eine Drehscheibe humanitärer Versorgung verwandelt. Hier gibt es warmes Essen, WLAN und medizinische Versorgung. Rund 220 Patient:innen haben das Krankenhaus in den vergangenen Monaten verlassen, aber viele Ältere wollen nicht evakuiert werden, weil sie nicht wissen, wohin sie sollen, und niemanden haben, der für sie sorgen könnte.

„Wie evakuiert man in dieser Lage ein Krankenhaus? Wie kann man sie alle zurücklassen?“, fragt Vodyanyk. Trotz der Bombenangriffe bleibt daher auch er, genau wie die örtlichen Behörden, NGOs und Ehrenamtlichen. Ältere Menschen sind eine in allen humanitären Krisen häufig vernachlässigte Gruppe. Die Analyse von Google-Nachrichten-Suchwörtern zwischen dem 24. Februar und dem 22. April zeigt, dass 97 Prozent aller Artikel mit Ukraine-Überschrift, die Kinder oder ältere Menschen erwähnten, den Fokus auf Kinder legten. Nur drei Prozent erwähnten also ältere Menschen, und davon beschäftigten sich nur drei mit älteren Frauen.

Obwohl es in der Ukraine mehr als 50 Prozent mehr Renter:innen als Kinder unter 15 Jahren gibt, helfen etwa die 390 britischen NGOs, die in der Ukraine im Einsatz sind, fast doppelt so wahrscheinlich Kindern wie älteren Menschen. Laut Justin Derbyshire, CEO von HelpAge International, ist das ein weltweites Problem: Während und nach Kriegen vernachlässigen Regierungen und internationale Organisationen die spezifischen Bedürfnisse älterer Patient:innen. „Das ist Altersdiskriminierung und ein Beispiel dafür, wie schlecht das globale System darin ist, auf die Bedürfnisse älterer Menschen einzugehen.“

Ältere Leute wie Vasylivna und Bodnar stehen im Zentrum der Krise in der Ukraine, als Opfer ebenso wie als Retter. Nachdem sie sich ein Leben lang um andere gekümmert haben, brauchen sie jetzt selbst Schutz. Dabei drohen nicht nur Einsamkeit und Hunger, sondern Vergewaltigung und Mord.

„Ich habe alles gesehen: den Holodomor“ – die „Tötung durch Hunger“, wie die große Hungersnot von 1932/1933 auf Ukrainisch bezeichnet wird –, „den Zweiten Weltkrieg, so viel Horror. Was kann mich noch erschrecken?“, fragt Halyna Vasylivna. Sie hätte nie gedacht, dass Russland in ihr Land einmarschieren würde. Jetzt macht ihr Angst, dass sie sich nicht selbst versorgen kann. Sie hat das Gefühl, in der Falle zu sitzen. „Ich wäre zur Evakuierung bereit, wenn ich noch allein für mich sorgen könnte. Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet. Es ist wirklich ein Jammer, dass ich nichts mehr tun kann.“

Angelina Kariakina ist Chefredakteurin des TV-Senders Hromadske TV in Kiew. Luba Kassova ist Medienexpertin in London

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