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Dokumentation | Kreatur wie wir


Link [2022-02-13 15:33:29]



Andrea Arnold begleitet in ihrem Film „Cow“ die Kuh Luma durch die letzten Lebensjahre

Als wichtigsten Moment im Leben nennt so manche:r die Geburt eines Kindes. Und bei Luma? Luma ist eine Milchkuh, mit schwarz-weißem Fell und einem weißen Gesicht, unter ihrem linken Auge prangt ein kleiner, herzförmiger schwarzer Fleck. Daran erkennt man sie. Luma ist die Protagonistin von Cow. Vier Mal hat sie bereits gekalbt, am Anfang von Andrea Arnolds Film gebärt sie ein fünftes, gegen Ende ein sechstes Kälbchen – die britische Regisseurin hat für ihren ersten Dokumentarfilm einige Jahre lang auf Lumas Milchfarm in Kent gedreht.

Inwieweit man das (Er-)Leben eines Rindes mit dem eines Menschen vergleichen kann, das streift die philosophische Frage, was ein Leben ausmacht: Bewusstsein? Abstraktes Denken? Oder doch Gefühle? Letztere sind nicht objektiv messbar. Dennoch haben viele Menschen ein im Mai 2021 in Großbritannien erlassenes Gesetz begrüßt, das Tierquälerei stärker unter Strafe stellt – weil „alle Wirbeltiere Gefühle haben, Freude, Vergnügen, Leid und Schmerz empfinden können“, wie es der Umweltminister ausdrückte.

Also ist es legitim, sich zu fragen, wie es Luma geht, zum Beispiel kurz nach der Geburt: Landwirt:innen in Regenhosen und Gummistiefeln ziehen mit einem Strick das Kälbchen aus ihr heraus, lassen es ins Stroh plumpsen. Die große Halle liegt im Halbdunkel, es sieht schmutzig aus, aber das Empfinden für Schmutz ist wahrscheinlich ein rein menschliches Konzept. Luma leckt ihr Kälbchen trocken, das blökt vor sich hin und findet das Euter. „Good girl“, hört man jemanden kommentieren, einer der wenigen menschlichen Laute im Film. Das Kälbchen ist also eine Sie. Bald darauf, Arnold lässt ausschließlich Bilder sprechen und verzichtet auf zeitliche oder inhaltliche Einordnungen, ist das Kalb „entwöhnt“ und trinkt mit anderem Kuhnachwuchs Milch aus blauen Plastikeimern, in denen eine Plastikzitze verankert ist. Es spielt, es guckt, es blökt, es hüpft herum – Kälbchenkindergarten, würde man sagen, wenn man die Tiere vermenschlichen wollte.

Haben Wirbeltiere Gefühle?

Cow evoziert all diese Fragen durch die fehlende Kommentierung und den Versuch einer relativen, bewussten Perspektivlosigkeit: Gedreht hat ein Mensch, aber der hält sich zurück. Protagonistin ist eine Kuh, aber die spricht nicht. Cow unterscheidet sich so einerseits vom üblichen landwirtschaftlichen Dokumentarfilm und ist mit seinen realistischen Bildern andererseits das Gegenteil von Victor Kossakowskis Gunda – das dort in sanftes Schwarz-Weiß getauchte Schweineleben auf dem Bauernhof wirkt gegen Lumas unablässige Arbeit wie das Paradies.

Darum denkt man darüber nach, ob Luma und ihr Kalb so etwas wie Verlust fühlen, wenn sie voneinander getrennt werden. Was es bedeutet, wenn Luma ihren schweren Kopf auf den Rist einer anderen Kuh legt, wenn sie durch die Zaunbretter linst, auf die vorbeieilenden Jungtiere, von denen eines oder mehrere aus ihrer Gebärmutter stammen. Und weiß doch, dass die Manipulation, die Inszenierung bereits mit der Nachahmung der Kuhkopfbewegung durch die Kamera beginnt, dass diese Bewegung anthropomorphisiert – Kühe haben ein anderes Gesichtsfeld als Menschen, es umfasst 360 Grad, sie sehen weit, aber nicht sehr scharf und erkennen nicht, was sich unmittelbar vor ihnen abspielt. Und selbst wenn manche Regierungen der Überzeugung sind, dass Wirbeltiere Sentimente haben, heißt das noch lange nicht, dass sie Verlust, Sehnsucht, Trauer empfinden, dass sie sich ausgebeutet oder eingeengt fühlen. Oder sie empfinden all das doch – und haben nur keine Worte.

Luma, die fleißige Milcharbeiterin, die ihr riesiges Euter stoisch über den schlammigen Boden zur Melkmaschine schleppt und dort mit den anderen, man möchte sagen: Freundinnen mechanisch gemolken wird, kann gut hören, Rinder hören mehr als Menschen. Schon lange gibt es Untersuchungen über die richtige Melkmusik, den Sound, der den Milchfluss anregt. In Lumas Stall läuft der BBC-Sender Radio 1 für junge Leute, mit Hits, Dance Music, Billie Eilish, Angel Olsen und Kelsey Lu. Arnold lässt den Eindruck stehen, dass die Musik, die scheppernd hinter dem Muhen, dem Schnarren der Maschinen zu hören ist, zufällig erklingt. Doch ihr Sound, die nur subtil wahrnehmbaren Texte, selbst das Geschlecht der Interpreten ist kein Zufall – beim Recherchieren entdeckt man, dass der Song Skinny Love sogar extra für den Soundtrack aufgenommen wurde. Es ist ein Liebeslied, einer jener sehnsüchtigen Songs, die auch auf den Soundtracks zu Arnolds Filmen über menschliche weibliche Schicksale, Red Road, Fish Tank oder American Honey,zu finden sein könnten. Und wenn der Stier, der Luma decken soll, an ihr herumschnüffelt, tut er das nachts auf einer großen freien Fläche im Stall, die mit etwas Fantasie wie der Dancefloor eines Industrialclubs aussieht (oder ist das zu sehr vermenschlicht?), und dazu läuft Tyrant von Kali Uchis, ein weiteres tanzbares Liebeslied. Nach der Begattung böllert es am Himmel, dann stehen die Tiere, die sich auf Wunsch ihrer Besitzer fortgepflanzt haben, in einem Moment der Ruhe aneinandergelehnt im Gegenlicht. Man würde „postorgastisch“ sagen, aber – siehe oben.

Luma hat einige Winter im Stall und einige Sommer auf grünen Wiesen erlebt, hat Hunderte Liter Milch gegeben (fast 30 Liter täglich), hat sich sechs Kälber herausziehen lassen. „Mit dem Alter wird sie protektiv“, sagt eine der Farmerinnen, vielleicht, weil sie dem jüngsten, wieder weiblichen Kalb, dessen Schicksal damit feststeht, hinterherzumuhen scheint. Das Ende ist traurig, wie der gesamte Film. Eventuell ist es gar nicht so wichtig, herauszufinden, ob und was eine Kuh fühlt. Um das Tierwohl zu unterstützen, durch nachhaltige Tierhaltung oder den Konsum von nachhaltigen oder den Verzicht auf tierische Produkte, sollte Mitleid reichen.

Info

Cow Andrea Arnold Großbritannien 2021, 94 Minuten, Mubi

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