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Documenta 15 | Antisemitismus auf der Documenta: Eine gedankliche Leerstelle


Link [2022-06-27 23:01:46]



Wie kann die internationale Kunstschau einen Dialog über Antisemitismus führen, ohne dass dies wie eine deutsche Erziehungsmaßnahme wirkt?

Nun ist er also da, der Skandal, der GAU: Auf einem großformatigen Werk des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi auf dem Kasseler Friedrichsplatz ist an einer Stelle ein Mann mit blutunterlaufenen Augen, spitzen Zähne und einer gespaltenen Zunge zu sehen, Schläfenlocken und ein Hut identifizieren ihn als jüdischen Menschen. SS-Runen sind darauf abgebildet. An anderer Stelle trägt ein Soldat mit Schweinsgesicht ein Halstuch mit einem Davidstern und einen Helm mit der Aufschrift „Mossad“ – die Bezeichnung des israelischen Auslandsgeheimdienstes. Abbildungen im Stil antisemitischer Karikaturen, wie sie im deutschen Nationalsozialismus üblich waren, werden ausgerechnet auf der Documenta gezeigt, der größten deutschen Schau zeitgenössischer Kunst. Am Montagabend wurde das Banner, das prominent vor dem Fridericianum auf ein Gerüst aufgespannt ist, nach massiven Protesten mit einem schwarzen Tuch verhüllt und einen Tag später schließlich abgebaut.

Damit ist sie wohl dahin, die große Chance, die weltweiten Folgen von Krieg und Flucht, Armut und Hunger, Unterdrückung und Ausbeutung auf künstlerischer Basis zu verhandeln. Der Skandal verstellt den Blick darauf, was im Mittelpunkt der Documenta hätte stehen sollen. Viel wurde im Vorfeld darüber geschrieben, wie das kuratorische Kollektiv ruangrupa mit seinem Konzept allerorten hierarchiefreies Denken und Arbeiten inspiriert, indem sie Kollektive einladen, die wiederum andere Kollektive einladen, die an sie angedockt sind. Ein weltumspannendes Netzwerk soll so zu neuen Formen der Gemeinschaft führen, zu einer sozialen Praxis, die jenseits aller Theorie in den Ausstellungsräumen, aber auch an Orten des alltäglichen Lebens und Arbeitens stattfindet. Fragen von Einschließung und Ausgrenzung werden verhandelt, Macht und Ohnmacht: Wer gehört dazu, wer nicht? Wer darf rein, wer nicht, was ist ein geschützter Raum? Wie werden Gemeinschaften gestiftet, wie sichergestellt, dass sich niemand übergangen fühlt?

Überall auf dem Ausstellungsgelände sind Aktivist*innen vertreten, finden ohne Ende Workshops und kritische Selbstbefragungen statt, als befände man sich auf einem Bar Camp. Edding und Flipboard sind die natürlichen Freunde solcher Treffen, auf buntes Papier kopierte Schablonen warten auf Einträge: „Write or draw your thoughts“, steht da, „paste it on the white wall“. Oder es wird zum sensiblen Umgang mit Sprache – gehört dazu nicht auch die Bildsprache? – gemahnt: „Watch your words – they have a huge influence.“ An den Wänden hängen Schaubilder und Diagramme, die so kompliziert sind, als würde hier die WHO tagen. Auf einer Wandtafel steht: „Kollektives Denken erfordert den Austausch von Ideen, die aus einem breiten Spektrum von Erfahrungen und Überzeugungen stammen. Teilt eure Gedanken, Meinungen und Ideen mit.“

Die Stadt als Ökosystem

Das *foundationClass*collective aus Berlin hat für die Documenta eine Reihe von zehn Soundinstallationen produziert, die sich auf die Spuren migrantischen Lebens begeben. Sie sind in den „Minicars“ eines Taxinetzwerks zu hören, das als eines der ersten migrantischen Unternehmen in Kassel 1963 gegründet wurde. Während der Taxifahrten zu den vielen, diesmal insgesamt 32 Ausstellungsorten der Documenta werden zehnminütige Folgen einer mobilen Audio-Skulptur angespielt, in der mit den Fahrer*innen Interviews zu Themen wie „Heimaten“, „Arbeitsmigration“ oder „An(ge)kommen“ geführt werden. kassel_über_kreuzungen heißt die Reihe der Gesprächs-, Musik- und Klangcollagen.

In der Holländischen Straße, gleich beim ehemaligen Internetcafé, dessen Betreiber Halit Yozgat hier 2006 im Alter von 21 Jahren vom NSU ermordet wurde, liegt der nach ihm benannte Halitplatz, der auch eine Bahnstation ist. „An dem Morgen wusste ja kein Mensch, was passiert ist, nur, dass hier abgesperrt war. Dass so was hier in Kassel passiert ist, das hat keiner erwartet, dass hier so was möglich ist. Dass jemand mit der Waffe in den Laden reingeht und ihm in den Kopf schießt. Für mich war das nicht zu glauben“, sagt einer der Befragten in Folge 5 der Reihe, die einfach nur Halit heißt. Einige der Interviewten erinnern sich nicht nur an den Tag des Mordes gut. In den Wochen, Monaten und Jahren nach der Tat fuhren sie die trauernden Familienmitglieder zu Terminen. Plötzlich, auf dem Rücksitz eines Taxis, schließen sich die Erzählungen, die das Großevent Documenta verhandelt, so mit der Kasseler Realität kurz, dass die Berührung Funken schlägt.

Ruangrupa begreifen die Stadt als Ekosistem (indonesisch für Ökosystem), als ein Geflecht von sozialen Kontexten, in dem die Schau entsteht und wächst und mit den Menschen vor Ort in Verbindung tritt. Damit findet zwangsläufig auch ein inhaltlicher Transfer statt, der ortsspezifisch wirkt und den urbanen Schauplatz nicht nur als Kulisse versteht. Die wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen des Globalen Südens hallen tagtäglich auch im Hier und Heute eines Kasseler Ausländeramts, Gemeindezentrums oder Taxis wider und treffen so mitten ins Herz der deutschen Gegenwart.

Freiraum für neue Ideen

Der holländische Künstler Reinaart Vanhoe bietet mit dem Kollektiv ook_ in der Neuen Brüderkirche Werkstätten an, deren Produkte von Hausaltären bis zu selbst gedruckten Magazinen reichen. Ein Freiraum für neue Ideen will dieser Ort sein, eine Anlaufstelle für Geflüchtete aus der Ukraine ebenso wie für Leute aus der Nachbarschaft oder das angereiste Kunstpublikum. Zuhören statt belehren will er, wie man es auch von ruangrupa kennt. Dann erzählt er davon, wie er in der Vorbereitung empört ein Security-Briefing abbrach, auf dem die Polizei die zunehmend angespannte Sicherheitslage mit der Auskunft zu beruhigen versuchte, die Gäste hätten hier nichts zu befürchten, schließlich befänden sie sich – anders als viele der Künstler*innen in ihren Heimatländern – in einer Demokratie, in der alles mit rechten Dingen zuginge. Und dies ausgerechnet in der Stadt eines NSU-Mordes, zu dem sich die Verfassungsschutzakten über die Verstrickung der Behörden auf Jahrzehnte unter Verschluss befinden. Als er einmal einen Notruf wegen einer Autopanne in englischer Sprache tätigte, erhielt Vanhoe die knappe Antwort: „Wir sind hier in Deutschland“, bevor das Gegenüber kurzerhand aufhängte.

Das *foundationClass*collective hat in einem ehemaligen Speditionsgebäude ein Laboratorium für künstlerische Experimente eingerichtet. Auch hier hängen Banner von der Decke, auf denen in englischer Sprache Sätze zu lesen sind wie: „Die *foundationClass ist für Menschen gedacht, die Rassismus erleben, sich als BIPoC identifizieren oder Erfahrungen mit Flucht und Migration haben. Kämpfer und Überlebende.“ Oder: „Offene Türen für alle, die von dieser Gesellschaft strukturell unterdrückt und als Letzte anerkannt werden.“ An anderer Stelle heißt es: „Schafft einen Zugang zur Kunst, der sich auf die Kämpfe und Stimmen der Missachteten und Verdrängten konzentriert.“ Die in ihrer Anlage utopische, auf dieser Documenta in großem Stil versuchsweise in Realität überführte Organisationsform des Kollektivs beruht in erster Linie darauf, aus der Perspektive der Opfer zu denken: der Opfer von Kolonialismus und Imperialismus, Gewalt und Krieg, von Verletzungen und Ausschlüssen jeder Art, sei es gegen Frauen, gegen People of Color, gegen Homo- und Transsexuelle, und natürlich auch gegen Juden.

Es gibt noch viel zu klären

Doch im Hinblick auf Letztere ist die Kunstschau krachend gescheitert, denn nun ist ausgerechnet das Gegenteil dessen passiert, was alle hier einklagen: Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, betont, dass mit den antisemitischen Zeichnungen nun endgültig eine rote Linie überschritten ist. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, sagte zum Banner von Taring Padi: „Das ist klare antisemitische Hetze.“ Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, der ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck erklärte, so werde „unmittelbar auch der Geltungs- und Achtungsanspruch eines jeden in Deutschland lebenden Juden angegriffen“. Antisemitische Übergriffe, die hierzulande ständig zunehmen, erhalten so neue Nahrung. Scheinbar ist dieser Punkt bei vielen der in Kassel vertretenen Künstler*innen aus (post)kolonialen Kontexten eine gedankliche Leerstelle. Dies mündet nun in ein Versagen, aus dem heraus sich eine Minderheit nicht nur verletzt, sondern bedroht fühlt.

Wir sind hier in Deutschland. Diese Erfahrung macht gerade auch die indonesische Künstlergruppe Taring Padi und mit ihr Tausende andere Kultur- und Kunstschaffende aus aller Welt, in deren lokalen Kontexten andere Fragen drängen als die deutsche Tätervergangenheit. Wir sind hier in Deutschland. Was bedeutet das? Dass man gefälligst deutsch zu sprechen hat? Für manche offenbar ja, für andere, dass dieses Land eine besondere Verantwortung gegenüber den Überlebenden und Nachkommen des Holocaust trägt. Taring Padi wurde 1998 von progressiven indonesischen Kunststudierenden und Aktivistinnen und Aktivisten gegründet. Zu ihrer Kunst gehören Straßenproteste oder Workshops, mit denen sie aufrütteln und zum Thema Menschenrechte informieren wollen. Wo bleibt dabei das Thema Antisemitismus? Wie kann es gelingen, das große Scheitern in einen für alle Seiten doch noch produktiven Dialog zu überführen? Wie kann die Erschütterung westlicher Denkstrukturen, die für diese Kunstausstellung in Kassel aufschlug, auch das Thema Antisemitismus in ihren Geltungsbereich einschließen, ohne als deutsche Erziehungsmaßnahme rüberzukommen? Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee findet, es sei „höchste Zeit, im Rahmen dieser Documenta ein Gespräch zu beginnen, die Künstler zu hören, aus welcher Weltsicht diese Bilder so entstanden sind, und seitens der Documenta öffentlich zu erklären, warum diese Bilder hier auf Widerstand und Ablehnung stoßen“. Es gibt noch viel zu klären.

Info

Die Documenta Fifteen in Kassel läuft noch bis 25. September

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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