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Die Linke | Deshalb blickt die Linkspartei in den Abgrund


Link [2022-04-21 15:54:49]



Susanne Hennig-Wellsow ist zurückgetreten, der #LinkeMeToo-Skandal erschüttert die Partei, vor allem aber hat sie bei der Bundestagswahl 2021 ein Debakel erlebt. Dafür gibt es strukturelle Gründe, die sich klar an Zahlen ablesen lassen

Schon das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 kam für Die Linke einem Blick in einen Abgrund gleich. Nur ihre Direktmandate haben sie davor bewahrt, aus dem Bundestag zu fliegen. Nun ist Susanne Hennig-Wellsow als Parteichefin zurückgetreten, die Frage nach der Positionierung in Bezug auf Russlands Krieg gegen die Ukraine spaltet die Partei, während sie sich zugleich mit Vorwürfen sexualisierter Übergriffe unter dem Schlagwort #LinkeMeToo auseinandersetzen muss.

Über allem aber steht das miserable Abschneiden bei den Bundestagswahlen 2021, für das allerlei konjunkturelle Gründe angeführt werden: Der Wahlkampf habe zu sehr oder zu wenig auf Rot-Rot-Grün orientiert. Die Polarisierung zwischen SPD und CDU sei zu stark gewesen. Das Abstimmungsverhalten zur Rettung afghanischer Ortskräfte sei unverständlich gewesen. Die Klimaproteste hätten den Grünen die Wähler zugespült, während die umstrittene Buchveröffentlichung Sahra Wagenknechts, gefolgt von Ausschlussanträgen ihre Anhänge und Gegner gleichermaßen von der Wahl der Linken abgehalten hätten. All diese Gründe haben sicher zum Wahlergebnis beigetragen. Den Absturz von 11,9 Prozent (2009) und 9,2 Prozent (2017) auf 4,9 Prozent (2021) erklären sie nicht. Dazu müssen wir strukturelle Gründe betrachten.

Der vermeintliche Erfolg mit neuen Milieus

Das Ergebnis geht auf einen Absturz des Stimmanteils der Linken in den „classes populaires“ zurück. Mit diesem Begriff, den man mit „Volksklassen“ übersetzen kann, bezeichnet der französische Soziologe Olivier Schwartz jene gesellschaftlichen Gruppen, deren Leben von Machtlosigkeit und der Trennung von der herrschenden Kultur geprägt ist. Ihren Kern bilden Arbeiter und einfache Angestellte. Sie machen rund die Hälfte der Bevölkerung aus. Alle Indikatoren bestätigen diese Diagnose: Wählten 2009 noch 20 Prozent derjenigen, die sich selbst den Arbeitern oder der Unterschicht zurechneten, Die Linke, waren es 2021 weniger als sechs Prozent. In der unteren Mittelschicht waren es 2009 14 Prozent, während es 2021 gerade einmal vier Prozent waren. 2021 wählten nur noch fünf Prozent der Arbeiter und drei Prozent der einfachen Angestellten Die Linke, 2009 waren es noch 18 bzw. zwölf Prozent.

Auch in unteren und mittleren Einkommensgruppen stürzte Die Linke um mehr als zehn Prozentpunkte ab. Dieser Rückgang lässt sich bis zur Bundestagswahl 2013 zurückverfolgen und verstetigte sich 2017. Zwar schnitt Die Linke 2017 besser als 2013 ab (9,2 gegenüber 8,6 Prozent). Allerdings ging das auf Zugewinne in den Mittelklassen zurück, während sich die Verluste in den Volksklassen fortsetzen. Damals galt das als Erfolg der Parteiführung, der es gelungen sei, neue Milieus anzusprechen. Der Absturz 2021 straft diese Deutung Lügen. Die Partei steht vor den Trümmern dieser Strategie. Wie ist diese Entwicklung zu erklären?

Umverteilung und Globalisierung

Damit Parteien sich etablieren und halten können, müssen sie sich gegenüber gesellschaftlichen Großkonflikten, die man in der Wissenschaft „Cleavages“ nennt, positionieren. Bereits 1967 haben die Soziologen Stein Rokkan und Seymour Martin Lipset vier Cleavages identifiziert: Zentrum-Peripherie, Staat-Kirche, Stadt-Land, sowie Kapital und Arbeit. Die Bedeutung der Cleavages wandelt sich mit der Zeit. Neuere Arbeiten heben die Bedeutung der Globalisierung hervor. Diese Cleavages lassen sich in der Einstellungs- und Parteienforschung auf zwei bis drei Dimensionen zusammenfassen: eine erste Dimension zu Umverteilung, eine zweite Dimension zu gesellschaftlicher Liberalität. Eine steigende Zahl von Forschern fügt dem eine dritte Dimension zu Globalisierung hinzu. Andere meinen, Globalisierungsfragen wie Einwanderung, EU-Integration und Freihandel ließen sich ausreichend in den zwei ersten Dimensionen abbilden. Gemeinsam ist ihnen allen jedoch, dass sie den Umwälzungen der Globalisierung und ihrer Politisierung wachsende Bedeutung beimessen.

Programmatisch hat sich Die Linke seit ihrer Gründung wenig bewegt. Sie steht für Umverteilung, für eine liberale Gesellschaftspolitik und der Globalisierung bei aller Kritik aufgeschlossen gegenüber. Sie kritisiert zwar den Freihandel und das Demokratiedefizit der Europäischen Union, vertritt jedoch gleichzeitig eine offene Einwanderungspolitik. Damit kam der Linken eine zentrale Position zwischen den globalisierungsfreundlichen Grünen und der konservativen CDU/CSU zu. Doch das Parteiensystem hat sich gewandelt. Die AfD hat von 2013 an das Zentrum des Parteiensystems mit ihrer EU-Kritik und xenophoben Rhetorik verschoben. Die Linke steht nicht mehr im Zentrum, sondern ist eine von mehreren globalisierungsfreundlichen Parteien, die der AfD gegenüberstehen.

Das treibt einen Keil in die Linke-Wählerschaft. Einwanderung wurde im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise“ und dem Aufkommen der AfD bestimmendes Thema. Die Linke vertritt die weitreichende Forderung nach „offenen Grenzen für alle“. Das wurde von den damaligen Parteivorsitzenden immer wieder bekräftigt und gegen Kritik verteidigt. Blieb eine solche Position zuvor „unter dem Radar“ und spielte für die Wahlentscheidung kaum eine Rolle, rückte sie ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Gleichzeitig büßte soziale Gerechtigkeit bei der Wahlentscheidung an Bedeutung ein. Linken-Wähler eint die Forderung nach Umverteilung, während Einwanderung Gräben zwischen ihnen aufreißt. Die Volksklassen sind überdurchschnittlich für Umverteilung. Gleichzeitig sehen sie Einwanderung und gesellschaftliche Liberalisierung skeptischer als der Durchschnitt. Teile der Mittelklassen dagegen, besonders Akademiker in sozialen Berufen, haben überdurchschnittlich sowohl eine Präferenz für Umverteilung als auch für gesellschaftliche Liberalisierung sowie Offenheit für Migranten. Der Verlust bei den Volksklassen deutet darauf hin, dass Die Linke sich zu sehr auf Seiten der Mittelklassen geschlagen hat. So sind Unter- und Arbeiterschichtangehörige von allen sozialen Gruppen diejenigen, die sich bei Fragen der Migration am weitesten von der Partei Die Linke entfernt wähnen. Bei Angehörigen der oberen Mittelschicht und der Oberschicht hingegen ist die Distanz zur Linken in dieser Frage am geringsten.

Grüner als die Grünen

Trotzdem ist 2021 der Stimmanteil der Linken auch bei den Mittelklassen zurückgegangen. Das erklärt sich damit, dass die Stellung an Seiten der Mittelklassen bereits von den Grünen besetzt wird. Für Die Linke ist es daher wenig erfolgversprechend, so weiterzumachen wie bisher oder gar grüner als die Grünen zu werden. Sie vertieft sonst die Gräben zwischen sich und den Volksklassen und buhlt um Gruppen, die die Grünen bereits gut vertreten.

Eher sollte sie sich wieder verstärkt den Volksklassen zuwenden, denen es an politischer Repräsentanz mangelt. Damit könnte Die Linke ihre Wahlbeteiligung wieder erhöhen. Das wäre nicht nur im Interesse der Linken, sondern der parlamentarischen Demokratie. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, auf Forderungen wie nach „offenen Grenzen“ oder der Abschaffung des Verbrennungsmotors bis 2030 zu verzichten. An diesen Fragen wird sich zeigen, ob Die Linke den Blick in den Abgrund als heilsame Warnung zu nutzen versteht oder ihren Absturz in die Bedeutungslosigkeit riskiert.

Die Zahlen in diesem Artikel sind eigene Berechnungen auf Grundlage des German Longitudinal Election Study (GLES), des European Social Survey (ESS) und des Manifesto Project. Die Daten und die Berechnungen können beim Autor erfragt werden.

Lev Lhommeau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der belgischen Université catholique de Louvain (UCLouvain) und promoviert dort und an der französischen Université de Lille in Politikwissenschaft und Soziologie.

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