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Corona | Wisst ihr noch, der Boots-Rave? Warum wir uns weniger empören sollten


Link [2022-06-27 23:01:46]



Zwei Jahre nach dem Shitstorm gegen Feiernde in Berlin wird wieder getanzt vor dem Urbankrankenhaus. Hinter den Mauern: Krankheit, Leid und Tod. Wie gehen wir mit diesen Ungleichzeitigkeiten des Lebens um?

Die Luft ist warm und weich, Stimmen tanzen über das Wasser, warme Sommerworte mischen sich mit einem wummernden Bass, Gitarrenklängen, Gesang. Eine Bluetoothwelle legt sich über die andere: Die Wiese am Urbanbecken in Berlin ist voller Menschen, die den längsten Tag des Jahres feiern, es ist 23 Uhr am 21. Juni 2022 und noch etwas Licht am Horizont, es wird geredet und gelacht, gerufen, gesungen und getanzt. Keine 50 Meter daneben ringen Menschen auf der Intensivstation des Urban-Krankenhauses um ihr Leben.

Daran denken die Feiernden natürlich nicht, jeden Abend sitzen sie hier am Urbanbecken, weil es schön ist am Wasser, weil es einer der wenigen Orte ist, an dem die Berliner Häuserschluchten sich öffnen und etwas länger Licht bis auf die Berliner Füße fallen lassen. Krankheit und Leid hinter den Mauern, Freude und Feiern davor, so ist es schon immer.

Meist stört sich niemand daran. Bis zum Frühjahr 2020. Wisst ihr noch? Dieser Boots-Rave, auf dem all die Corona-Verdrängungs-Hedonist*innen waren, denen das Schicksal der Erkrankten total egal war und die in der Sonne tanzten, bloß um sich gegenseitig anzustecken? Da war ich, auf diesem Rave. Und jetzt, zwei Jahre pandemieerfahrener, möchte ich gerne etwas zur Empörungs-Dynamik sagen – und zum Umgang mit Krankheit und Tod in dieser Gesellschaft.

Inzidenz im Mai 2020: 3,5

Als die Berliner Clubs ihre Wasserdemonstration „Rettet die Rave-Kultur!“ starteten, am 31. Mai 2020, lag die Corona-Inzidenz bei 3,5. Und wir kamen alle aus wochenlanger Isolation.

Ich zumindest hatte seit März kaum jemanden richtig gesehen und vor allem gearbeitet, isoliert, alleine wohnend, Homeoffice. Ich hatte Wochen der Einsamkeit und Verängstigung hinter mir, wie die meisten. Aber jetzt war Frühling, ich hatte mir ein Gummiboot gekauft und das wollte ich ausprobieren, mit meinem Bruder, einem der wenigen Menschen, die ich in den vergangenen Wochen viel und eng gesehen hatte. Wir pumpten also das Boot am Ufer des Landwehrkanals auf und hörten Musik, Techno-Beats, sie kamen immer näher, und es klang nicht mehr nach Smartphone oder Café. Es klang nach ganz großer Box. Nach Bass. Bass in den Knochen. Mein Körper reagierte – zum ersten Mal seit Wochen war da dieser Takt, der unter die Haut geht: Musik! Woher kommt die?

Wir brachten unser Boot zu Wasser, dann kamen die ersten Club-Boote, eins nach dem anderen, und langsam verstanden wir: Eine Boots-Demo! Ein Rave auf dem Kanal!

Um uns herum begannen die Gummiboote, sich an die großen Boote zu hängen und sich schleppen zu lassen. Wir knoteten uns an ein Nachbaarboot, unterhielten uns mit den anderen, die zwei Meter entfernt im Wasser saßen, lachten. Wir versuchten, auf dem wackeligen Boot aufzustehen und zu tanzen. Wir fielen hin, fast ins Wasser, wie andere auch, wir lachten in andere lachende Gesichte, endlich wieder andere lachende Gesichter! Wir holten uns einen Aperol Spritz am Ufer und tanzten weiter, alle zwei Meter tanzten zwei Menschen in ihrem Boot, es gab Glitzer und Lachen und wieder Glitzer, und es war ein großer Spaß. Tanzen ohne Ansteckung, genial, genial!

Dann, im Urban-Becken, war die Demo vorbei, aber es wurde weiter getanzt in der Sonne, denn hier schien endlich die Sonne auf das Wasser. Zuviel sogar, mit der Zeit. Die Sonne brannte und wir ruderten zurück nach Hause.

Abends ging ich auf Twitter. Und sah, was wir angerichtet hatten: Getanzt, so eng! Getanzt, vor einem Krankenhaus! War uns das Leben der mit dem Virus ringenden Menschen wirklich so egal? Wollten wir uns wirklich alle anstecken und unsere Alten in den Tod reißen?

Damals lag die 7-Tage-Inzidenz bei 3,5. Heute liegt sie bei 489.

Tanzen, atmen, rauchen

Heute tanzen alle Menschen überall. In engen Clubs, aus derselben Bierflasche trinkend, Zigaretten teilend, dieselbe Luft hundert-, tausendfach einatmend, egal, egal. Und sie tanzen auch auf der Wiese am Urban-Becken, in der Abendsonne, und in der musikgeschwängerten Nachtluft der Sommersonnenwende. Vor dem Vivantes-Klinikum am Urban.

Deutschlandweit lagen am 31. Mai 2020 697 Menschen mit Covid-19 auf den Intensivstationen, heute sind es 795.

Aber der Juni 2022 ist nicht der Mai 2020, soviel steht fest. Im Mai 2020 hatte man die Bilder aus Bergamo in Italien im Kopf, Militärlaster voller Leichen, der blanke Horror. Man konnte das Virus nicht einschätzen: Wie stark verbreitet es sich im Freien? Wie viele Menschen werden sterben? Es gab keine Impfung, die Krankheitsverläufe waren wesentlich schwerer. Man hatte die Bilder aus den Intensivstationen im Kopf. Die Vorstellung, dass direkt davor Menschen tanzen, schien unmenschlich.

Heute, über zwei Jahre nach der Bootsparade, zeigt sich: Die Parade hat niemanden gefährdet. Der kollektive Aufschrei war nichts weiter als eine riesige Abreaktion der Angst und des Frustes, der Traurigkeit und Sorge, die sich wochenlang aufgestaut hatten. „Wir“ haben diese Abreaktion abbekommen. Es sollten sie noch andere abbekommen: Feiernde Familien, die eine Größe von Mama-Papa-Kind überschreiten, Neuköllner*innen im Allgemeinen; Großstädter; Spätgeimpfte; Ungeimpfte.

Zeiten der Trauer, Zeiten des Feierns

Doch auch „wir“, auch die Menschen auf dem Kanal, in den Booten und drum herum, hatten unsere eigene Corona-Geschichte. Wir hatten wochenlang keine Familie, keine Freund*innen gesehen, einige waren psychisch Rande der Erschöpfung, und wir genossen die paar Stunden Tanzen, weil dieses Tanzen Balsam war für unsere Seelen. Tanzen und Gemeinschaft.

Die Bootsdemo von damals stellt die uns innewohnende Empörungs-Lust in Frage; die Lust, all unsere Wut, Unsicherheit und unseren Frust zu kanalisieren, indem wir Schuldige finden und schreiend mit dem Finger auf sie zeigen.

Aber die Bootsdemo stellt auch Fragen, die heute nicht weniger offen sind als damals: Wie gehen wir in der Gesellschaft mit dem Leiden und dem Sterben um? Auch heute tanzen wieder Menschen, während Corona sich zur nächsten Welle formt, und während in der Ukraine Menschen ermordet werden, Hunderte, Tausende. Wir tanzen und lachen, obwohl und während es Leid gibt auf dieser Welt. Es gibt Zeiten der Trauer, es gibt Zeiten des Alltags, und es gibt Zeiten des Feierns. Nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Leben und Tod. Und alles dazwischen.

Ich würde mir wünschen, dass wir mit beidem einen Umgang finden. Denn das Leben ist nicht vorbei, wenn eine Krankheit ausbricht. Und der Tod ist nicht vorbei, wenn eine Pandemie zur Normalität übergeht. Wie sieht ein Umgang mit kranken, sterbenden und trauernden Menschen aus, im ganz normalen Leben? Das ist die Frage, die ich zwei Jahre nach dem Boots-Rave mit mir trage, hier am Berliner Landwehrkanal.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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