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Corona | Warten aufs Weltdrama


Link [2022-03-06 14:58:15]



„Wer schweigt, stimmt zu“, das neues Buch der Politologin Ulrike Guérot provoziert, die Lektüre lohnt aber trotzdem

Wie liest man ein Buch, das einem schon auf dem Titel eine Provokation, wenn nicht gar einen Vorwurf entgegenschleudert? Wer schweigt, stimmt zu steht groß auf dem kleinen Einband. Am unteren Rand zwängt sich gerade noch so der Untertitel Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen. Da nun die meisten der womöglich zahlreichen Leser bisher zur schweigenden Mehrheit gehören dürften, muss man erwarten, dass sie das Buch mit gemischten Gefühlen des Ertappt-Werdens oder mit dem Impuls zur Selbstverteidigung zur Hand nehmen.

Sie können es beruhigt tun, denn wie so oft ist nicht die Entfaltung der These, die auf dem Titel prangt, der eigentliche Inhalt des Buchs. Der Untertitel trifft es schon eher: Die Politologin Ulrike Guérot – man kennt sie als Europaverfechterin, als Kritikerin der Corona-Maßnahmen wurde sie heftig kritisiert – formuliert eine Deutung des Geschehens der vergangenen zwei Jahre, das auch von der Autorin immer wieder schlicht „die Pandemie“ genannt wird. Eine eigene plausible Interpretation dieses Geschehens gegen die vorherrschende „Pandemie-Erzählung“ zu setzen, das ist das Anliegen des Buchs, wobei diese Interpretation selbstverständlich eine Einordnung in einen größeren Kontext, in eine Weltdeutung überhaupt umfasst, aus der sich schließlich eine Utopie, ein Programm für die Zukunft ergibt.

Ein großer perfider Plan

Der Kern der Guérot’schen Erzählung von der Pandemie, der sich aus dem engagiert geschriebenen Essay herausdestillieren lässt, geht etwa so: Die Pandemie und die daran anschließende Pandemie-Politik sehen aus wie ein großer perfider Plan, zumindest sieht es so aus, als wenn Leute, die schon lange einen großen Plan hatten, die Pandemie für ihre miesen Zwecke zu nutzen gewusst haben – aber das täuscht. Es ist etwas komplizierter. Natürlich kommen auch in Ulrike Guérots Deutung Leute vor, die miese Pläne haben und Gelegenheiten nutzen, um ihre Pläne umzusetzen – aber das ist nicht das Wichtigste, wenn man die scheinbare Zwangsläufigkeit des Geschehens verstehen will. Die Zwangsläufigkeit und Folgerichtigkeit sind vielmehr der Struktur der Situation geschuldet, die man im Nachhinein im Geschehen erkennen kann.

Leider wird diese interessante Analyse nicht immer deutlich, weil Guérot sich oftmals eines provozierenden Vokabulars bedient, das in eine andere Richtung drängt. So schreibt sie etwa über die mediale Entfaltung des Corona-Diskurses: „Da die Umstellung auf einen fast exklusiv Corona gewidmeten Diskurs global und fast gleichzeitig passierte, kann man wohl von medialer Gleichschaltung sprechen, freiwillig versteht sich, nicht auf Knopfdruck.“ Guérot weiß vermutlich, dass das Wort Gleichschaltung das Denken beim Lesen auf ein Gleis setzt, das in Richtung planmäßiger Diktatur führt, also die Vorstellung einer Clique erzeugt, die eine mediale Gleichschaltung plant und umsetzt. Das ist aber nicht das, was die Autorin im Sinn hat, und man fragt sich, warum sie ihren Essay nicht von solchen Anspielungen frei hält, die immer wieder auftauchen und von denen man sich beim Lesen immer wieder frei machen muss.

Denn was Guérot beschreibt, ist nicht das Wirken eines Plans, sondern die Auswirkung einer sozialen Struktur, die sich zuvor etabliert hat und die nun, mit der Ausbreitung des Virus, deutlich sichtbar wird und fatale Folgen hat. Im Falle des medialen Diskurses spricht sie von einem „medialen Überbietungswettbewerb, wer die meisten, die schlimmsten Berichte über Corona hatte“, von einer gelangweilten und sensationssüchtigen Welt, die auf ein Weltdrama gewartet hat. Sie spricht auch von einer Politik, die in ihre Potenz kommen konnte, die „Masken oder Desinfektionsmittel verteilen, Impfstrategien beschließen und vieles andere mehr, also endlich einmal wieder konkret handeln“ konnte.

Wenn man sich also von den Signalwörtern nicht ablenken lässt, findet man erhellende Interpretationsansätze für das Zustandekommen des Umgangs mit dem Pandemie-Geschehen. Die Autorin will uns daran erinnern, dass „auch in Corona-Zeiten … die Dinge selten so eindeutig sind, wie sie scheinen“. Teilweise findet man dann bei ihr zwar auch nur das inzwischen bekannte Einmaleins der Pandemie-Maßnahmenkritik (etwa „Wenn Simulation und Wirklichkeit aber nicht übereinstimmen, liegt das selten an der Wirklichkeit“), aber es gibt auch immer wieder Ansätze, die einen neuen Blick auf unsere Zeit und die gegenwärtigen Ereignisse erlauben, etwa „wie sehr die ganze MINT-Kultur im Wissenschaftsbetrieb dazu geführt hat, dass Theorien und Theoriefähigkeit durch den Ausverkauf der Geisteswissenschaften praktisch abgeschafft wurden und Gesellschaftstheorien jetzt schnell als Verschwörung abgetan werden“.

Konsequenzen durchdenken

Der Verwandlungsprozess ist „wie von selbst, aber eben trotzdem passiert“ und konnte dann umgehend von Macht- und Kapitalinteressen ausgenutzt werden. Für Gedanken dieser Art lohnt sich die Lektüre des Buchs. Es lohnt sich auch, mit Guérot den Konsequenzen nachzugehen, die aus diesem Prozess folgen, und mit ihr zu sehen, was jetzt gerade passiert, dass wir nämlich gerade dabei sind, „die digitalen Überwachungssysteme für den digitalen Kapitalismus zu installieren“.

An diese Diagnose schließt sich eine Utopie an, denn Guérot will schließlich die politische Reaktion auf Corona als einen verzweifelten „Todeskampf einer sterbenden, dysfunktionalen, irrationalen, größenwahnsinnigen und autodestruktiven Machmaschinerie“ deuten. Deshalb kommt bald eine Zeit, in der „das Leben neu beginnen“ kann. Auch für die Utopie, die im Finale des Essays entwickelt wird, lohnt sich das Lesen dieses Buchs.

Info

Wer schweigt, stimmt zu Ulrike Guérot Westend 2022, 144 S., 12,99 €

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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