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Corona | „Jede Epoche hat ihre eigene Pandemie“


Link [2022-02-26 11:38:40]



Der Historiker Karl Heinz Roth analysiert, wie die Pandemie den digitalen Kapitalismus einläutet – und die Krise der Linken vertieft. Ein Gespräch darüber, wie Viren Gesellschaft formen

Wir schreiben das Jahr 2022, wir befinden uns im dritten Pandemiewinter, diskutiert wird über die Rückkehr zur Normalität genauso wie über die Einführung einer Impfpflicht. Die gesellschaftliche Linke ist in ihrer Positionierung gespalten: Während die einen sich an den Warnungen und Handlungsempfehlungen aus der Virologie orientieren, organisieren andere den Widerstand gegen jene epidemiologisch begründeten Schutzmaßnahmen. Naturwissenschaft und Sozialanalyse scheinen auseinanderzudriften, es bilden sich neue politische Lager.

Karl Heinz Roth ist Historiker und Mediziner, in seinem neuen Buch Blinde Passagiere. Die Corona-Krise und ihre Folgen (Verlag Antje Kunstmann 2022, 480 S., 30 €) versucht er, beide Traditionen wieder zu einem gesamtgesellschaftlich ansetzenden linken Denken zusammenzubringen.

der Freitag: Herr Roth, Sie beschreiben die Coronapandemie in Ihrem Buch als medizinisches, aber auch als soziales Ereignis. So ein umfassender Blick war in den vergangenen zwei Jahren eher die Ausnahme. Warum eigentlich?

Karl Heinz Roth: Pandemien sind natürliche Prozesse, deren Verlauf durch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umstände beeinflusst wird. Der Tunnelblick der Experten thematisiert in der aktuellen Coronapandemie jedoch nur bestimmte Einzelaspekte. Meistens tut er das auch mehr oder weniger richtig. Er verallgemeinert diese Einzelaspekte unter Ausschluss der anderen. Im Grunde ist das klassisches Fachidiotentum, der gesamtwissenschaftliche Blick geht verloren.

Der epidemiologische Blick verdrängte etwa die Warnungen von Psychologen vor Depressionen oder von Demokratietheoretikern vor einer Abspaltung ganzer Bevölkerungsgruppen.

Darin drückt sich eine schwere Krise der gesamten Wissenschaft aus, eine Krise der wissenschaftlichen Ausbildung, eine Krise der Methodik, der Epistemologie. Der zweite Aspekt, der zu Fehlschlüssen führt, besteht darin, dass die Pandemie ein globaler Prozess ist. Die Antworten darauf sind aber überwiegend nationalstaatlich organisiert. Globale Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation WHO haben immer mehr an Bedeutung verloren. Und das führt wiederum zu einem methodischen Nationalismus, der fatale Fehlreaktionen zur Folge hat. Wir befinden uns also in einer Situation, in der sich die Wissenschaft im Blindflug befindet – die Politik aber auch.

Schauen wir also gesamtwissenschaftlich auf die gesellschaftlichen Folgen. Wie würden Sie Covid-19 in der Geschichte der Pandemien der vergangenen 100 Jahre einordnen?

Jede Epoche des Kapitalismus hat ihre eigene Pandemie. Der Spätabsolutismus hatte die Pocken, die industrielle Revolution hatte die Cholera und die Tuberkulose. Im 20. Jahrhundert hatten wir die Influenzapandemien und AIDS.

Die Spanische Grippe diente häufig als Vergleich für Corona.

Dabei unterscheidet sich die Spanische Grippe von 1918 bis 1920 in wesentlichen Aspekten von der aktuellen Coronapandemie: die historische Konstellation, das Endstadium des Ersten Weltkriegs und die sozialen Umbrüche, die damals stattfanden. Eine Konstellation, die die internationale Ausbreitung der Pandemie, vor allem durch militärische Operationen, sehr stark beeinflusst hat. Dazu kommt die Schwere der Pandemie und die Aggressivität des Erregers. Die Hälfte der Menschheit, fast 800 Millionen Menschen – damals gab es 1,6 Milliarden Menschen auf der Welt – war infiziert. Die Sterblichkeit war sehr hoch, fünf bis zehn Prozent. Der neueste Forschungsstand spricht von 40 bis 50 Millionen Todesopfern. Und ganz anders als bei Covid-19 war vor allem die mittlere Generation der 20- bis 40-Jährigen betroffen. Die Influenzapandemien haben sich dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederholt: die Asiatische Grippe 1957/58, die Hongkong-Grippe 1968 bis 1970 und zuletzt 2017/18.

AIDS hingegen scheint sich einem Vergleich eher zu entziehen … Wieso ist diese Pandemie im historischen Gedächtnis weniger präsent?

Die AIDS-Pandemie ist Anfang der 1980er-Jahre aufgekommen. Im Gegensatz zur Influenza befällt das Aids-Virus vor allem spezielle gesellschaftliche Gruppen: Das waren zunächst die homosexuellen Männer und dann Milieus mit sehr häufig wechselnden sexuellen Kontakten. Die Sterblichkeit am Anfang war extrem hoch, das Aids-Virus war ein Killervirus. Innerhalb von 40 Jahren sind bis jetzt 35 Millionen Menschen gestorben. Aktuell sind 37,5 Millionen Menschen erkrankt. Das ist ein schleichender Prozess. Es gibt noch keinen Impfstoff.

Covid-19 ist offensichtlich gefährlicher als Grippe, aber auch nicht so gefährlich wie AIDS oder Ebola. Hat diese extreme Polarisierung – hier Verharmlosung, dort Überdramatisierung – vielleicht gerade damit zu tun, dass die Gefährlichkeit des Sars-CoV-2-Virus im mittleren Bereich liegt?

Es gibt frappierende Übereinstimmungen zwischen Influenza und Covid-19, und diese Übereinstimmungen führen zu Unsicherheit. Aber es gibt auch deutliche Unterschiede. Die jetzige Pandemie zeichnet sich durch eine extrem rasante Ausbreitung aus. Von den zwei ersten großen Clustern in Wuhan und Norditalien war das Virus innerhalb von zwei bis drei Wochen weltweit verbreitet – mal abgesehen davon, dass es wahrscheinlich eine präpandemische Phase gab. Das zweite Moment besteht darin, dass zwar alle Bevölkerungsgruppen, auch alle Altersgruppen und damit alle Generationen betroffen werden, aber ein Großteil der Infektionen unerkannt verläuft: Über die Hälfte aller infizierten Menschen erkrankt nicht oder entwickelt so milde Symptome, dass sie keinen Arzt aufsuchen. Und drittens gibt es spezifische gesellschaftliche Gruppen, die besonders gefährdet sind – alte Menschen über 70 Jahre und chronisch Kranke. Nur ein Prozent der Weltbevölkerung befindet sich in Alten- und Pflegeheimen, aber bis zur dritten Pandemiewelle waren 40 Prozent aller schwer Erkrankten, die verstorben sind, Patientinnen und Patienten aus diesem Heimen.

Wenn Sie von heute aus auf diese pandemische Entwicklung zurückblicken: Welche von den Regierungen ergriffenen Schutzmaßnahmen waren aus Ihrer Sicht sinnvoll? Und welche Maßnahmen waren nur dem Bedürfnis geschuldet, politische Aktionsfähigkeit zu demonstrieren?

Grundsätzlich kann man sagen, dass alles an Maßnahmen sinnvoll war, was die Infektions- und Seuchenhygiene vorangetrieben und hochgefahren hat – aber: Es wurde überall viel zu wenig zum Schutz der besonders gefährdeten Gruppen getan. Und viele Maßnahmen des allgemeinen Rundumschlags waren schlicht kontraproduktiv, wie etwa Ausgangssperren oder die Schließung von Parks. Vorbildcharakter für diesen Rundumschlag vieler Regierungen und Krisenstäbe hatte der große Shutdown in China. Vor allem Australien und Neuseeland orientierten sich hieran. Dann gab es eine zweite Gruppe von Staaten, die versucht hat, diesen Shutdown zu variieren und vor allem den Wirtschaftssektor, zumindest soweit er nicht als essenziell eingestuft wurde, herauszuhalten. Und es gab eine dritte Gruppe, die versucht hat, eher moderat zu agieren.

Wenn wir uns Deutschland anschauen, hatte die Bundesregierung gerade zu Anfang Probleme mit der Logistik.

Ja, zumindest in der ersten Welle der Pandemie wurden gerade die Maßnahmen unterlassen, die am sinnvollsten gewesen wären. Trotz aller Pandemiepläne gab es keine Vorräte an Schutzmasken, an Schutzkleidung, an Desinfektionsmitteln, an entsprechenden medizinischen Geräten. Es gab keine medizinischen und klinischen Reservekapazitäten. Es war nicht möglich, die an Covid-19 Erkrankten von vornherein von den übrigen schwer Erkrankten in den Krankenhäusern zu trennen. Schutzmaßnahmen zur Absicherung der Seniorinnen und Senioren nicht nur in den Pflegeheimen, sondern auch im betreuten Wohnen wurden unterlassen.

Im Fokus der Maßnahmen stand weniger die Lage in den Einrichtungen, sondern vielmehr die Inzidenz – also die allgemeinen Zahlen zur Ansteckung. Wieso wurde diese Zahl so zentral?

Das ist eine Frage, über die ich lange gerätselt habe. Als Inzidenz wurde von diesen Experten die Zahl der registrierten Corona-Infizierten benannt – also der offiziell positiv Getesteten. Die tatsächliche Inzidenz war aber auch in Deutschland wesentlich höher. Da in der Coronapandemie über die Hälfte aller Menschen überhaupt nicht erkrankt oder nur milde Symptome entwickelt, war die Fixierung auf diese „Meldeinzidenz“ völlig absurd.

Zur Person

Foto: Verlag Antje Kunstmann

Karl Heinz Roth, 79, befasst sich als Arzt, Historiker und Publizist mit den Verbrechen des Nationalsozialismus – auch auf medizinischem Gebiet – sowie mit der Geschichte der Arbeiterbewegung

Welche Zahlen hätten eine bessere Grundlage für das politische Handeln geboten?

Von Anfang an hätte die Hospitalisierungsquote in den Blick genommen werden müssen, und natürlich die Sterblichkeit. Das geschieht inzwischen – aber auch da werden wieder Fehler gemacht. Bei der Hospitalisierungsquote werden in Deutschland noch immer überwiegend alle Menschen benannt, die, wenn sie ins Krankenhaus eingeliefert werden, positiv getestet werden. Nur ein Teil dieser Menschen, etwa 60 bis 70 Prozent, werden aber wegen schwerer Verlaufsformen von Covid-19 in die Krankenhäuser eingeliefert. Bei den anderen geht es um ganz andere Erkrankungen.

Wieso werden sie dennoch registriert, als würden sie wegen Corona ins Krankenhaus kommen?

Das kann man nur verstehen, wenn man weiß, wie das Abrechnungssystem in den Krankenhäusern läuft. Die Menschen, die infiziert sind, müssen isoliert werden, daher entstehen höhere Fallkosten. Die Kliniken melden alle Covid-19-Patientinnen und -Patienten, weil sie dann ihre Fallpauschalen erhöhen. Aber mit einer exakten epidemiologischen Statistik hat das nichts zu tun.

Kommen wir zu den Schutzmaßnahmen zurück: Was hätte man konkret tun können, um die Risikogruppen in den Senioreneinrichtungen besser zu schützen?

Man hätte von Anfang an die Testmöglichkeiten hochfahren und den Infektionshygieneschutz in den Alten- und Pflegeheimen mobilisieren müssen. Da man das alles nicht hatte, hat man dann die Angehörigen vom Besuch der Seniorinnen und Senioren in den Pflegeheimen ausgeschlossen, monatelang. Das hat zu katastrophalen Entwicklungen geführt, zu schweren Depressionen, zu Suiziden in den Heimen.

Die ohnehin unterbesetzte Pflege war mit dem Infektionsschutz teils überfordert.

Deshalb hätte man die Missstände in Altenpflege und Gesundheitswesen bei Beginn der Pandemie sofort angehen müssen.

Ist es eine gute Nachricht, dass die Pandemie diese Missstände wenigstens offengelegt hat?

Der Pandemieverlauf hat nicht nur die Missstände grotesk bloßgelegt, sondern er hat auch zu Hunderttausenden unnötigen Todesopfern geführt. Man hätte viel schneller dafür sorgen müssen, dass das Pflegepersonal aufgestockt wird, dass Tarifsysteme eingeführt werden, dass die Arbeitszeiten verkürzt werden, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Die dringlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des Pflegenotstands sind aber weiter unterblieben.

In den medialen Fokus rückte in der Pandemie nicht nur die Pflege. Auch die Bilder der Armeefahrzeuge, die Leichen aus dem italienischen Bergamo fuhren, die Diskussionen bei Twitter, Facebook und Youtube haben die Art und Weise, wie wir auf das Virus reagierten, extrem beeinflusst.

Wenn wir uns das mediale Echo der letzten großen Influenzapandemie von 2017/2018 anschauen, als in Deutschland immerhin 25.000 Menschen gestorben sind, war die Wahrnehmung im Vergleich zur Coronapandemie minimal. Das sieht heute völlig anders aus. Die Informationen haben sich durch die Digitalisierung beschleunigt – und damit auch die Angstprozesse.

Unsere Wahrnehmung der Pandemie war von Anfang an sehr digital geprägt: die mathematischen Modelle, die exponentiellen Kurven, die Dashboards. Covid-19 war die erste Pandemie, die live im Internet stattfand.

Die Coronapandemie wird heute in den sozialen Netzwerken und Medien viel stärker diskutiert als die Spanische Grippe in den traditionellen Medien am Ende des Ersten Weltkriegs. Klar ist auch, dass diese Entwicklung dazu benutzt wurde, digitale Innovationsprozesse im Kern des kapitalistischen Weltsystems voranzutreiben. Die Entwicklung sieht man auch sehr deutlich bei der Nutzung digitaler Kommunikationsstrukturen, um alle mittel- und höherqualifizierten Arbeiterinnen und Arbeiter in das sogenannte Homeoffice zu schicken.

Aber nicht nur die Arbeit der Angestellten hat sich verändert. Amazon etwa verzeichnet nach zwei Jahren Pandemie Rekordgewinne.

Im industriellen Sektor gibt es zudem eine extreme Ausweitung und Beschleunigung der Robotisierung. Roboter erkranken nicht an Covid-19. Roboter schaffen Distanz zwischen den in den Fabriken noch vorhandenen Arbeitskräften. Und auch die Biotechnologie existiert in ganz wesentlichen Komponenten auf der Basis von Digitalisierung. Die Wissensproduktion wird unter dem Druck der digitalen Konstellation extrem beschleunigt. Plötzlich erscheinen erste Forschungsergebnisse schon als Preprint. Sie werden vor der Veröffentlichung nicht mehr in einem normalen Review-Prozess durchgesehen, sie werden nicht mehr überprüft.

Der politische Diskurs selbst hat sich auch verändert. Politische und soziale Gegensätze werden zu Wissenskonflikten umgedeutet, nach dem Motto: „Hier sind die Leute, die wissenschaftlich denken und aufgeklärt sind – dort stehen die irrationalen Verschwörungstheoretiker.“

Da ist ein Prozess der Umschichtung in Gang. Auf der einen Seite gibt es so etwas wie eine technokratisch-autoritäre Strömung, die Hegemonie beansprucht. Das ist ein sehr bedenkliches Phänomen, und es hat dazu geführt, dass auf der anderen Seite so etwas wie ein pseudolibertärer Irrationalismus entstanden ist. Da sammeln sich Leute, die diesen Prozess mit Unbehagen wahrnehmen, ihn aber nicht verstehen, und gleichzeitig mit ihren eigenen, durch die Pandemie verstärkten Angstprozessen konfrontiert sind. Da gibt es eine spiegelbildliche Entsprechung.

Kann man sagen, dass große Teile der sich als links oder progressiv verstehenden Milieus konformistischer geworden und näher an die herrschende Klasse herangerückt sind?

Ich beobachte mit großer Sorge, dass auch die progressive Seite der akademischen Mittelschichten, der „Educated Society“, immer stärker an die herrschenden Entscheidungszentren heranrückt. Ich glaube, dass es in den autoritär-technokratischen Strömungen eine riesige Furcht vor politischem Legitimationsverlust gibt. Bei den pseudolibertären Vertretern des neuen Irrationalismus dagegen gibt es eine Tendenz, Gerüchte, Ad-hoc-Interpretationen und kurzfristige Erklärungsmuster heranzuziehen und mit älteren, sozialisationsbedingten Gesellschafts- und Lebensmodellen zu verbinden.

Die Konflikte werden also anhand neuer politischer Linien geführt?

Es hat eine Verschiebung stattgefunden, die dazu führt, dass der politische Diskurs sich in eine neue Ebene zwischen zwei neuen politischen Polen bewegt hat, bei der der Blick auf die sozialen Verwerfungen, auf Ungleichheit, Klassenunterschiede, auf zunehmende Verarmungsprozesse immer mehr verschwindet. Das ist eine Entwicklung, die letztlich nur beschleunigt wurde.

An welche Trends aus der Zeit vor der Pandemie knüpft das an?

Wir erleben ja seit Jahren, wie die akademischen Mittelschichten verstärkt Gender-Diversity-Konzepte und so weiter in den Diskurs einbringen und zugleich die realen sozialen Prozesse immer mehr ausblenden. Und das übersetzt sich dann bis in die linken Parteien. Mein Problem damit ist, dass die Linke, zumindest in der Transatlantikregion, in diese beiden Lager abdriftet. Ein Teil geht in Richtung dieser technokratisch-autoritären Zustimmungstendenz, die die zunehmende Einschränkung individueller, sozialer und politischer Rechte gutheißt und sogar ihre Intensivierung fordert.

Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?

„Zero Covid“ ist so ein Beispiel. Auf der anderen Seite driften Menschen aus der Alternativszene bis hin zu Medizinerkolleginnen und -kollegen, die ich sehr schätze, in ein Spektrum des Irrationalismus ab, das nach rechts offen ist.

Halten Sie das für einen ideologischen Sturm im Wasserglas – oder für eine politische Entwicklung mit realen Konsequenzen?

In Deutschland ist diese Entwicklung schon sehr deutlich zu sehen, aber in anderen Ländern noch dramatischer. So etwa in Italien, wo die Zero-Covid-Initiative über die linken Gewerkschaften zunächst versucht hat, den Lockdown zu einem kompletten Shutdown der Wirtschaft zu vertiefen, aber die Arbeiterinnen und Arbeiter ihnen aus Sorge um ihre Arbeitsplätze nicht gefolgt sind. In Italien gibt es ganze Gruppierungen der arbeitenden Klassen, zum Beispiel in italienischen Häfen wie in Triest, die ihre traditionellen linken Positionen verlassen haben und jetzt nach rechts abdriften. Man muss aber klarstellen, dass die Linke sie vorher verlassen hatte.

Sehen Sie eine Chance, diesem Auseinanderdriften der Linken entgegenzusteuern?

Ich hoffe, dass es möglich sein wird, diesen Prozess umzukehren. Dafür muss ein dritter Weg skizziert werden – mein Buch verstehe ich als einen Versuch, eine analytische Grundlage dafür zu schaffen: Ein dritter Weg, der kritisch wissenschaftlich fundiert ist, der aber auch nicht wissenschaftsgläubig ist. Ein Weg, der epidemiologische Erfahrung sowie Erfahrungen des Public Health einbringt, der interdisziplinär und systemisch an die Dinge herangeht und die gesellschaftlichen Aspekte berücksichtigt. Ein Weg, der eine moderate Linie entwickelt und durchsetzt, die zu einem gesellschaftlichen Dialog führt. Es gibt linke Gruppierungen, die bereits sehr ins Nachdenken gekommen sind. Ich denke daher, es gibt Ansätze dafür, dass so etwas wie eine alternative Konzeption gegen die beiden Pole entwickelt wird.

Mit einer Alternativkonzeption allein macht man keine Politik.

Das stimmt, aber es gibt soziale Prozesse, beispielsweise bei den Gesundheitsarbeiterinnen und -arbeitern, die am Rande ihrer Möglichkeiten angekommen sind, die erschöpft sind, die nach Alternativen suchen und soziale Kämpfe führen – ein Beispiel sind die starken Streikkämpfe an der Berliner Charité der vergangenen Jahre. Hier wäre anzuknüpfen: am sozialen Widerstand gegen die Absurditäten der Pandemiebekämpfung, an den notwendigen Alternativentwürfen für eine Rekommunalisierung des Gesundheitswesens, an den Kämpfen für eine materielle Aufwertung der Gesundheits- und Pflegeberufe.

Derzeit wird jedoch mehr über die Impfpflicht diskutiert als über eine Rekommunalisierung des Gesundheitswesens.

Die Diskussion über die Einführung des Impfzwangs in Deutschland ist absurd: Man starrt hierzulande auf eine Impfquote von inzwischen 75 Prozent und überlegt, sie nun durch Zwang auf 80 oder 85 Prozent zu bringen. Gleichzeitig waren die Impfquoten in jenen Weltregionen, aus denen die neuen Virusvarianten stammen, extrem niedrig. In Südafrika, aus der Region kam das Omikron-Virus, lag die Impfquote bei acht bis zwölf Prozent, in Indien war sie noch niedriger, als sich dort die Delta-Variante entwickelte. Die letzten Pandemiewellen wären möglicherweise zu vermeiden gewesen, wenn die Impfkampagne global angegangen worden wäre und nicht im Impfnationalismus geendet hätte. Das ist nur ein Beispiel, das zeigt, dass Alternativen möglich sind und dass wir sie auch in Gang bringen sollten.

Nun befinden wir uns in der fünften Welle, im dritten Pandemiewinter, die Sterblichkeit scheint mit Omikron nachzulassen. In welcher Phase der Pandemie sehen Sie uns heute?

Im Gesamtverlauf lässt sich eine Entwicklung erkennen: Die Infektiosität – also: die Fähigkeit des Virus, Menschen zu infizieren und anzustecken – ist ständig angestiegen, während seine Aggressivität seit der dritten Pandemiewelle fortlaufend abnimmt. Es sind derzeit, offiziell registriert, global etwa 400 Millionen Menschen erkrankt und es sind etwa 5,8 Millionen Menschen gestorben, das heißt: registriert gestorben. Es gibt Dunkelziffern, wodurch vor allem die Zahl der Infizierten wesentlich höher ausfällt, als in den offiziellen Statistiken widergespiegelt. Aber das ist die Situation mit den zentralen Eckwerten für eine adäquate Pandemiebekämpfung.

Läutet die Omikron-Variante das Ende der Pandemie ein?

Tatsächlich gibt es einiges, was dafür spricht, dass die Pandemie weniger gefährlich wird und der Übergang in eine endemische Phase nicht mehr weit ist. Aber wir sollten nicht unvorsichtig werden. Es könnte auch anders kommen.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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