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Corona | Die Würde des arbeitenden, geimpften Menschen ist unantastbar


Link [2022-02-01 21:34:02]



Der Chef der Bundesagentur für Arbeit will ungeimpften Hartz-IV-Empfänger*innen die Leistungen sperren. Ein Fall für den Verfassungsschutz?

Es gab eine Zeit, da wurde ernsthaft darüber diskutiert, die Hartz-IV-Sanktionen abzuschaffen. Zugegeben, sie dauerte nicht lang und die Debatte war nicht sehr laut, aber: Die Grünen wollten sie abschaffen und das Bundesverfassungsgericht dachte auch sehr laut darüber nach, ob sie überhaupt verfassungskonform seien. Das war 2019, als Karlsruhe zu einem sehr abwägenden Ergebnis kam: Manche der Sanktionen seien durchaus verfassungswidrig, und zwar jene, die den Bürger*innen das Existenzminimum gänzlich entzögen. Das heißt: Sanktionen von 60 oder 100 Prozent sind verfassungswidrig. Wenn jetzt der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, darüber sinniert, Ungeimpften nach Einführung einer Impfpflicht die Auszahlung von Hartz IV eine Zeitlang gänzlich zu sperren – dann sinniert er öffentlich darüber, gegen die Verfassung zu verstoßen. Damit ist der Chef der Arbeitsagentur eigentlich ein Fall für den Verfassungsschutz.

Eigentlich. Aber nun ist ja bekannt, dass der Verfassungsschutz sich nur jene Verfassungsfeinde genauer ansieht, die der Apparat gerade für solche hält. Das waren jahrelang Linksradikale inklusive einiger Mitglieder der Linkspartei, nach mehreren rechten Anschlägen wurden es dann auch mal Rechtsextreme, aber die Wächter*innen über die Auszahlung des Existenzminimums gehören wohl bis heute nicht dazu.

Und zum Karlsruher Urteil von 2019 muss noch erwähnt werden: Es war eben sehr abwägend. Die Richter befanden schon, dass der Gesetzgeber von den Hartz-IV-Beziehenden fordern darf, aktiv daran „mitzuwirken“, einen Job zu bekommen. Und dass der Gesetzgeber Sanktionen verhängen darf, wenn Leute das nicht tun. Diese dürfen lediglich nicht zu weit gehen. Heißt: Kürzungen von 30 Prozent sind unter bestimmten Bedingungen in Ordnung.

Die Menschenwürde liegt bei 449 Euro

Scheele hat nicht genauer ausgeführt, wie er sich so eine „Sperrzeit“ genau vorstellt, er sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe lediglich: Wenn eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht eingeführt würde, und wenn Arbeitgeber dann gesetzlich in der Lage seien, ungeimpfte Bewerber abzulehnen – dann müssten „auch wir als Bundesagentur (...) prüfen, ob eine fehlende Impfung zu einer Sperrzeit führt.“ Genau genommen handelt es sich bei einer ausgebliebenen Impfung dann um ausbleibende „Mitwirkung“ an der Jobsuche. Bevor sich der Verfassungsschutz also Scheele genauer anschaut, sollte er vielleicht noch einmal nach der genauen Beschaffenheit der Sperrzeit fragen.

Vielleicht sollte sich der Verfassungsschutz aber auch mal mit dem Bundesverfassungsgericht selber befassen. Denn warum die Verfassungsrichter*innen zu dem Ergebnis kommen, dass Hartz IV zwar das Existenzminimum darstellt – eine Annahme, die von Sozialverbänden seit Jahren angezweifelt wird, und die mit den derzeit steigenden Preisen erst recht fragwürdig wird –, wenn also der Regelsatz von 449 Euro dazu führt, dass ein Mensch in Würde existieren kann, dann folgt daraus unweigerlich, dass er von weniger Geld nicht mehr in Würde leben kann. Jede Sanktion, wenn auch nur in Höhe von fünf Euro, müsste damit doch logischerweise gegen die Verfassung verstoßen. Aber dass die Würde des Menschen nur dann wirklich schützenswert ist, wenn dieser Mensch sich darum bemüht, seine Arbeitskraft gegen Geld zu verkaufen, damit scheint sich diese Gesellschaft mitsamt ihrer Verfassung schon abgefunden zu haben.

Noch gibt es keine allgemeine Impfpflicht, und noch hat die Ampel nicht verkündet, wie sie die Sanktionen neu regelt, und bald ist Detlef Scheele in Rente und Andrea Nahles neue Chefin der Arbeitsagentur, es ist also noch einiges offen. Vielleicht hat Herr Scheele der Impfpflicht-Debatte ja einen guten Dienst erwiesen: Indem er gezeigt hat, dass sie letztendlich, am armen Ende der Gesellschaft, die Würde des Menschen untergräbt.

Vielleicht ist diese Gesellschaft mitsamt ihrer Verfassung aber inzwischen auch dabei, sich damit abzufinden, dass die Würde des Menschen nur dann wirklich schützenswert ist, wenn dieser Mensch sich gegen ein inzwischen beinahe zur Grippe herabmutiertes Virus impfen lässt. Dann sollten wir das Grundgesetz bald umschreiben in: „Die Würde des arbeitenden oder sich um Arbeit bemühenden, geimpften Menschen ist unantastbar“.

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