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Corona | Die „kritische Infrastruktur“ schlägt zurück


Link [2022-02-08 22:34:27]



Markus Söder rüttelt an der Impfpflicht. Er muss auf die vielen Pflegekräfte reagieren, die sich nicht impfen lassen wollen. Das zeigt, wer in dieser Gesellschaft eigentlich die Macht haben könnte: die Arbeiter*innen

Es ist einfach so: Wenn Pflegekräfte sich nicht impfen lassen wollen, dann kann man da nichts machen. Das bekam Markus Söder derzeit in Bayern zu spüren. „Großzügigste Übergangsregelungen“ will der Ministerpräsident schaffen, mit anderen Worten: Er will die Impfpflicht erst einmal aussetzen. Weil die Gesundheitseinrichtungen sonst womöglich nicht mehr genug Personal hätten. Nach dieser Ankündigung wird viel diskutiert: Darüber, ob ein Bundesland einfach so aus einer gemeinsamen Entscheidung ausscheren darf. Darüber, dass die Union damit in Opposition zur Bundesregierung geht. Aber die eigentliche Ursache von Söders Problem ist: Wenn sich Zehntausende Pflegekräfte nicht impfen lassen wollen, dann kann der Staat nichts dagegen tun. Weil er nicht auf Zehntausende Pflegekräfte verzichten kann. Die Macht liegt bei ihnen.

Die Debatte darüber, wie sinnvoll eine Impfpflicht für Menschen wäre, die sehr nah an durch das Coronavirus besonders gefährdeten Menschen arbeiten, soll an dieser Stelle nicht geführt werden. Hier geht es um eine Betrachtung der faktischen Rücknahme der Impfpflicht aus Arbeitskampf-Perspektive. Konkret ist ja geplant, dass die Beschäftigten in Alten- und Pflegeheimen oder Arztpraxen bis zum 15. März eine Corona-Impfung nachweisen müssen. Liegt der Nachweis zum Stichtag nicht vor, wird das Gesundheitsamt informiert – das wiederum ein Tätigkeitsverbot aussprechen kann.

Das Problem: Es gibt ohnehin zu wenig Pflegekräfte, und unter diesen Pflegekräften gibt es wiederum zu viele, die sich nicht impfen lassen wollen, als dass man auf sie verzichten könnte. Was hier passiert, kennt man sonst nur andersherum. Wenn die Politik ein Gesetz zur Umverteilung diskutiert, wie vor Jahren die Einführung eines Mindestlohns oder immer mal wieder die Höhe der Unternehmenssteuer, dann drohen Unternehmen damit, ins Ausland abzuwandern. Und da sich die Gesellschaft den Wegfall der Arbeitsplätze nicht leisten kann, überlegt sie sich Gesetze zur Einschränkung der Unternehmensspielräume gerne zweimal.

Wo nichts mehr zu verlieren ist

Anders war es bei der Einschränkung der Handlungsspielräume für Pflegekräfte – jahrelang. Durch eine Politik der Privatisierung und Flexibilisierung im Gesundheitswesen haben sie zusehends an Verhandlungsmacht verloren: Die „sprechende Medizin“, die Zeit für die Betreuung und Pflege von Patient*innen, wurde kaum mehr finanziert. Die Kliniken konnten nur noch durch reine Diagnose- und Fallzahlen Geld einnehmen, sodass die Pflege im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr wert war. Die Arbeitskraft wurde austauschbar, eine Kündigungsdrohung des Personals war nicht bedrohlich, genug Arbeitskräfte aus dem Ausland rückten nach. Die Pflegekräfte waren ohnmächtig.

Doch Ohnmacht hört dort auf, wo nichts mehr zu verlieren ist. Es war nicht erst in der Pandemie, als Pflegekräfte mit dem Rücken an der Wand standen und anfingen, sich zu wehren: 2014 gab es mehrere Klagen gegen den Pflegenotstand vor dem Bundesverfassungsgericht, immer wieder streikten Pflegekräfte seither für Entlastung, bessere Bezahlung und verbindliche Personalvorgaben per Gesetz. In Berlin erreichte die Krankenhausbewegung nach monatelangen Verhandlungen und Streiks, dass das Pflegepersonal freie Ausgleichstage erhalten muss.

Die Corona-Pandemie brachte die Macht des Pflegepersonals auf das neue Begriffskonstrukt der „kritischen Infrastruktur“.

Das Beispiel der Pflegekräfte zeigt, wie eine Phase der Unternehmensmacht umschlagen kann in eine Phase der Arbeiterinnenmacht. Das ist nicht einmal eine Frage des Bewusstseins. Irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem nichts mehr wegzukürzen ist, ohne dass das ganze System zusammenbricht. An diesem Punkt erhalten diejenigen, die das System dann noch aufrecht erhalten, fast automatisch Macht.

Die haben sie jetzt. Das Hadern des „Team-Vorsicht“-Söders in Bayern zeigt, dass Pflegekräfte die Macht haben, ein Gesetz zurückzuweisen. Nun ist es traurig, dass sich diese Macht ausgerechnet bei der Frage der Impfung zeigt – beim Schutz von Patientinnen also. Stellen wir uns einmal vor, Pflegekräfte würden kündigen, wenn sie nicht umgehend eine Lohnerhöhung erhalten, die dem gesellschaftlichen Wert ihrer Arbeit entspricht. Oder stellen wir uns vor, Polizistinnen könnten sich ihre Arbeit nicht mehr vorstellen, wenn racial profiling weiter Praxis bleibt. Oder stellen wir uns vor, Jobcenter-Mitarbeitende könnten sich ihre Arbeit nicht mehr vorstellen, wenn Sanktionen nicht abgeschafft würden.

Oder stellen wir uns vor, das Gesundheitsamt würde Kliniken schließen, wenn ihre Patientinnen nicht gut genug versorgt würden!

Die letzte Grenze des Menschen liegt wohl in der Haut seines Körpers, daher ist der Widerstand gegen das Impfen so groß. Doch zeigt das Bröckeln der Impfpflicht, was passieren könnte, würden Arbeitende ihre Grenze früher setzen. Die gesellschaftliche Macht von Pflegekräften, Jobcenter-Mitarbeitenden, Windmühlen-Bauenden oder Polizistinnen könnte diese Gesellschaft vom Kopf auf die Füße stellen. Arbeiter wussten das mal. Vielleicht wird die Pflege der Ort, an dem die Erinnerung daran erwacht.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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