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Corona | „Die Folgen der Schulschließungen waren für arme Familien verheerend“


Link [2022-03-21 09:32:55]



Bernd Siggelkow ist Gründer des Kinderhilfswerks Arche und hat miterlebt, wie sich der Lockdown auf benachteiligte Jugendliche auswirkte

Bernd Siggelkow hat 1995 in Berlin-Marzahn das Kinder- und Jugendwerk Die Arche gegründet. Dieses setzt sich mit Freizeitangeboten, Bildungsförderung und Beziehungsarbeit für benachteiligte Familien ein, heute u.a. auch in Dresden und Hamburg – oder in Warschau, wo bereits eine Gruppe ukrainischer Kinder betreut wird. In Berlin unterstützt die Arche hier lebende ukrainischstämmige Familien bei der Aufnahme von Geflüchteten und nimmt Spenden wie haltbare Lebensmittel, Hygieneartikel und Spielzeuge entgegen.

Während der Corona-Lockdowns sorgte Arche-Vorstand Siggelkow für Schlagzeilen, indem er auf deren fatale Folgen für Kinder aus armen Familien hinwies. 2021 hat er das Buch Kindheit am Rande der Verzweiflung (Claudius Verlag, 112 S., 14 €) veröffentlicht.

der Freitag: Herr Siggelkow, wie erinnern Sie sich an den März vor zwei Jahren, als Sie die Arche schließen mussten?

Bernd Siggelkow: Es war der 16. März, ich konnte es zunächst nicht glauben und habe kurz mit dem Gedanken gespielt, mich dem Staat zu widersetzen. Irgendwann wurde mir klar, das geht nicht, und wir mussten überlegen, wie wir den Kontakt zu den Menschen, die uns vertrauen, aufrechterhalten. Innerhalb von drei, vier Stunden haben wir dann eine „virtuelle Arche“ gegründet. Sehr kurzfristig wurde die notwendige Technik beschafft, um zumindest über den Bildschirm in die Wohnzimmer der Familien zu kommen.

Was haben Sie konkret gemacht?

Wir haben zum Beispiel eine digitale Spielshow auf die Beine gestellt, die Familien konnten Punkte sammeln, die Gewinner bekamen einen kostenlosen Pizzaservice am Wochenende. Das Jugendamt hatte über Nacht zugemacht, Hilfsorganisationen waren zum Teil nicht mehr erreichbar, die Tafeln waren wochenlang geschlossen. Die Kontaktbeschränkungen traten in Kraft, aber es gab auch Notfälle, bei denen wir handeln mussten. Mein Telefon stand nicht still, ich war 24 Stunden erreichbar, auch über Whatsapp, für den Fall, dass die Kinder kein Guthaben mehr auf dem Handy hatten. Ich war während des Lockdowns auch in Wohnzimmern von Menschen, um innerfamiliäre Eskalationen zu verhindern – könnte sein, dass ich da gegen geltende Eindämmungsverordnungen verstoßen habe.

Wie erging es den Menschen, denen Sie halfen, konkret?

Es gibt hier in Marzahn-Hellerdorf viele junge Familien mit mehreren Kindern. Ich kenne eine Familie mit vierzehn Kindern. Die Mutter war während des Lockdowns mit sechs der Kinder spazieren, um an die frische Luft zu kommen. Sie wurde von der Polizei angehalten, man sagte ihr, es sei verboten, mit so vielen Menschen auf der Straße zu sein. Sie hat sich so einschüchtern lassen, dass sie sich wochenlang in ihrer Wohnung einsperrte.

Das hätte sie nicht müssen.

Richtig, aber viele unserer Familien haben die bürokratische Sprache der staatlichen Verordnungen überhaupt nicht verstanden. Ich musste oft „übersetzen“. Einige, die nur schlecht Deutsch sprachen, konnten anfangs überhaupt nicht verstehen, was gerade passierte. Sie haben nur leere Straßen und viel Polizei gesehen und uns gefragt: „Was ist los? Ist in Deutschland Krieg?“

Wie erleben Sie den Umgang von Kindern mit der Corona-Krise?

Die meisten unserer Kinder erleben vor allem wirtschaftlichen und sozialen Druck, fühlen sich eingeengt. Vor lauter Ängsten sehen sie ihre Möglichkeiten gar nicht mehr. Ich sehe unsere Aufgabe auch darin, Ängste abzubauen. Den Menschen fehlt es an den Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben. Ja, es fehlt oft auch an Geld, aber nicht nur. Perspektiven und Würde vermittle ich nicht über Geld, sondern über Aufgaben, über Arbeit, über Ziele.

Wie blicken Sie auf die damaligen Schulschließungen zurück?

Gerade die hatten verheerende Folgen für die Kinder. Das darf nie wieder vorkommen. Wechselunterricht wäre keine optimale, aber die bessere Lösung, um die sozialen Kontakte der Kinder aufrechtzuerhalten und sie so auch vor häuslicher Gewalt zu schützen. Aber solange 22 Fußballspieler gemeinsam auflaufen und spielen dürfen, sollten unsere Kinder auch gemeinsam in einer Klasse zur Schule gehen können. Wir hatten im März 2020 einen Tag länger offen als die Schulen, da haben die Nachbarn vom Balkon gebrüllt: „Schick die Balgen nach Hause!“, und das Gesundheitsamt angerufen. Aber ich weiß, warum ich das tue, und eigentlich ist es mir egal, was solche Menschen über mich denken. Wichtig ist mir, was die Kinder über mich denken.

Zur Person

Foto: Metodi Popow/IMAGO

Bernd Siggelkow, 57, arbeitete als Außendienstler im Vertrieb einer Firma, absolvierte eine theologische Ausbildung bei der Heilsarmee und war als Jugendpastor tätig, bevor er Die Arche gründete. Mehr zu deren Ukraine-Hilfe im Internet unter kinderprojekt-arche.de/helfen-sie

Aber wie gehen Sie mit solchen Anfeindungen um?

Ich habe schon zwei Morddrohungen bekommen, mein Auto ist zweimal beschädigt worden, ich erhalte regelmäßig E-Mails, die mich zum Verlassen des Bezirkes auffordern. Leute, die mich vom Balkon aus beschimpfen, fordere ich auf, runterzukommen, um die Dinge zu klären. Ich bin selbst auf der Straße, in St. Pauli, groß geworden, und ich habe ein dickes Fell. Ermüdend sind Anfeindungen aus dem Politikbetrieb. Denen halte ich oft entgegen, dass ich mich nicht um mich selbst kümmere, sondern um Kinder dieses Landes.

Der „Politikbetrieb“, jetzt die neue Koalition, will Kinderrechte in das Grundgesetz aufnehmen ...

Das fände ich sehr gut, allerdings dürfen Elternrechte dabei nicht eingeschränkt werden. Es ginge mir um einen besseren Schutz der Kinder und um ein Recht auf Bildung. Dann könnten Eltern klagen, wenn es Unterrichtsausfall gibt, und der Staat müsste für eine bessere personelle Ausstattung der Schulen sorgen. Aber das kostet natürlich Geld, deshalb wird das schon seit Jahren diskutiert – allerdings ohne Ergebnis.

Sie sprachen von Elternrechten – wie haben Sie den Umgang von Eltern mit der Krise erlebt?

Vielen alleinerziehenden Müttern habe ich bei meinen Hausbesuchen klarzumachen versucht, dass sie ihren Beitrag für diese Gesellschaft leisten, dass sie auch „systemrelevant“ sind, wie es damals hieß, indem sie für ihre Kinder sorgen, für unsere Zukunft. Das hatte ihnen bis dahin oft noch niemand gesagt. Ich selbst fühle mich frei, weil ich in einem Land lebe, in dem ich frei agieren kann, aber ich habe auch etwas, mit dem ich mich identifiziere, eine Aufgabe. Viele Menschen identifizieren sich nur noch mit ihrem Besitz. Deshalb haben viele ärmere Familien einen großen Fernseher und das neueste Handy. Das schenkt ihnen die Freiheit von 300 Fernsehprogrammen, aber nicht die Freiheit zu innerer und äußerer Entwicklung.

Wie lässt sich das ändern?

Wir haben fast 30 Einrichtungen in ganz Deutschland, sind für gut 6.000 Kinder da, aber jeder neue Mitarbeiter bekommt von den Kindern die gleiche Frage gestellt: „Wie lange bleibst du?“ Es ist die Frage nach dem Vertrauen, wie viel Zeit hast du für mich? Im Leben unserer Kinder gibt es ständige Wechsel von Personen, Partnern der Mütter, Lehrerinnen, es gibt kaum Konstanz. Die Kinder setzen ihre Hoffnung in Menschen, die langfristig an ihnen interessiert sind. Das ist wichtig für den Aufbau eines wechselseitigen Vertrauensverhältnisses. Wer Hoffnung hat, glaubt an die Zukunft, hat eine Perspektive, für die es sich lohnt, sich anzustrengen. Wenn ein Kind mit einer Fünf in Mathe zu mir kommt, dann sage ich nicht, du solltest eine Zwei haben, sondern: Lass uns an einer Vier arbeiten. Man kommt nur mit kleinen Schritten und überschaubaren Zielen voran. Wenn das Kind dann die Vier geschafft hat, gibt ihm das Selbstvertrauen und Hoffnung.

Was, glauben Sie, sollten wir aus dieser Krise lernen?

Wir sind leider nicht so ein kinderfreundliches Land. Es wäre gut, wenn wir den Kindern zeigen, dass sie wertvoll sind. Mein, gleichwohl utopischer, Wunsch wäre nicht noch mehr Archen gründen zu müssen, sondern Einrichtungen schließen zu können, weil es keine Kinderarmut mehr gibt. Die Politik sollte unsere Kinder in die Mitte der Gesellschaft stellen und nicht an den Rand. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die jedes Kind so respektvoll behandelt, als wenn es das einzige wäre in dieser Welt.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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