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Campusroman | Hörsaal, frisch gebohnert


Link [2022-01-22 19:40:11]



An den Universitäten lassen sich die Veränderungen unserer Gesellschaften wie in einem Brennglas beobachten

Die Universität kommt in der Literatur in fast jeder nur denkbaren Konstellation vor. Der Universitätsroman erscheint als Abbild der (akademischen) Gesellschaft und damit als Ort der Intrigen und Vetternwirtschaft, der Rach- und Eifersucht, inzwischen als großes Pulverfass, in dem die modernen identitätspolitischen Kämpfe brodeln.

Wie zum Beispiel in Dieter Schwanitz’ Bestseller von 1995, Der Campus. Interessant ist, dass der Roman über einen Hamburger Hochschullehrer, dem eine Affäre mit einer Studentin fast zum Verhängnis wird, schon damals als Angriff auf einen politisch überkorrekten Feminismus gelesen wurde (und heute womöglich gar keinen Verlag mehr fände). Geradezu prognostisch für die Gegenwart wirkt aus heutiger Sicht Tom Wolfes Ich bin Charlotte Simmons (2005). Dort erlebt die Protagonistin ein #metoo avant la lettre, während Michel Houllebecqs Skandalroman Unterwerfung (2015) eine Dystopie für die nahe Zukunft entwirft und der Schriftsteller sich den Vorwurf gefallen lassen musste, er sei muslimfeindlich. Und wie man die Themen Rassismus und Identität schillernd gegen den Strich bürsten kann, zeigte im vergangenen Jahr Mithu Sanyal mit dem Romandebüt Identitti (der Freitag 7/2021).

Darüber hinaus ist die Universität, neben der abgewirtschafteten katholischen Kirche, eine der wenigen globalen Institutionen, die wir haben. Die Literatur über die globalisierte Universität ist, um mit dem Kommunistischen Manifest zu sprechen, eben Weltliteratur. Bei Marx und Engels hieß es bekanntlich: „Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.“

Dieser „Austeritätsquark“

So wie in Karen Ruoffs Academia (Argument) und Richards Russos Mittelalte Männer (Dumont), beide aus dem Jahr 2021. Beginnen wir mit Ruoffs Academia. Die Autorin ist Spezialistin für interkulturelle Fragen der Universitätspolitik, hat sie doch ihre Ausbildung in Stanford und an der FU Berlin absolviert. Seit gut vierzig Jahren ist sie Leiterin des Stanford-in-Berlin Centers. Sie ist also vom Fach, weiß, wovon sie schreibt. Academia spielt an einer fiktiven Universität an der US-amerikanischen Westküste. Dass wir so viel wiedererkennen – wissenschaftspolitische Sonntagsreden, faule, hypersensible Studierende, die nur noch Triggerwarnungen, aber keine intellektuelle Auseinandersetzung mehr wollen, Rhetorik der Ökonomisierung –, lässt vielleicht sehen, dass in vielerlei Hinsicht Globalisierung auch Amerikanisierung bedeutet.

Im Mittelpunkt dieses vorzüglichen Lesevergnügens steht Eve Braintree, die seit kurzen Direktorin des CMC, des Center for Media and Communication, ist. Das wissenschaftspolitische Setting des Romans bildet der „Austeritätsquark“, also die finanziell heikle Lage der Universität. Kurz vor dem Beginn des Herbsttrimesters soll die gesamte Universität auf Einsparungen und Verschiebungen im Budget vorbereitet werden. Mit weniger Geld soll bessere Wissenschaft gemacht werden. In herrlicher Persiflage der Innovationsrhetorik, die an die Netflix-Serie Die Professorin erinnert (der Freitag 38/2021) und in die „Universitäts-Manager“ auch hierzulande immer wieder verfallen, wird die schrullige Idee eines marginalisierten Historikers zum Auftakt weitreichender Veränderungen. Die Idee besteht nämlich darin, die Geschichtswissenschaft von der Last der Vergangenheit zu befreien und sie in die Geschichte der Zukunft zu verwandeln, als solche wird diese Idee zum „akademischen Autopiloten“, der ganz von selbst läuft. Eine realistische Beschreibung des digitalen Kapitalismus tritt am Ende des Romans auf, wenn aus dieser Idee eine ganze Industrie geworden ist, die deutlich die Kennzeichen von Google und Co trägt.

Die Universität wird aber nicht nur aus der Sicht von Wissenschaft und Wissenschaftspolitik, sondern auch aus der Perspektive einer Katze beschrieben. Der Universitätsroman erscheint hier als Fabel. Ein genialer Einfall. Die Katze, die nicht zufällig den Nachnamen des amerikanischen Pragmatisten John Dewey trägt, beschreibt die Universität von unten. Deweys Beobachtungen gelten den Arbeiter*innen auf dem Campus, jenen Reinigungs- und Sicherheitskräften, die den Laden am Laufen halten und die niemand sieht. Die Universität erscheint nicht mehr nur als Elfenbeinturm, sondern als Ort, an dem halt auch gewischt und gebohnert werden muss.

Mit Mittelalte Männer legt Richard Russo einen Roman vor, der die Veränderungen im Selbstbild des mittelalten Protagonisten William Devereaux mit den Veränderungen der Universität zusammenbringt. Russos Romane, wie zum Beispiel das Pulitzerpreis-Buch Diese gottverdammten Träume (2016), zeigen uns die Vereinigten Staaten als Land der dahinsiechenden Kleinstädte, in denen das Streben nach Glück, das in den USA Verfassungsrang hat, sich in gleichgültiges Aushalten der Umstände verwandelt. Russo ist sicherlich kein Geheimtipp mehr, aber mehr Leser*innen haben diese Romane sicherlich verdient.

Mittelalte Männer ist im amerikanischen Original 1997 erschienen, aber jetzt erst vorzüglich von Monika Köpfer übersetzt worden. An manchen Stellen des Romans spürt die Leser*in die Patina der 1990er-Jahre. Die Protagonisten telefonieren nur über das Festnetz, E-Mails gibt es noch nicht. Gleichzeitig entpuppt sich Russos Roman als Vorgeschichte der Gegenwart. Der Roman spielt an einer Provinzuniversität, also einem Ort, der, nicht ganz unmetaphorisch gesprochen, als eine Art „Maschinenraum“ des nordamerikanischen Bildungssystems fungiert. Die fiktive West Central Pennsylvania University wirkt wie eine realistische Darstellung der zahllosen kleineren Provinzuniversitäten in den USA, von denen keiner spricht, weil alle auf die sogenannte Ivy-League, also Stanford, Harvard, Yale und so weiter schielen. Die „West Central“ liegt nicht in hippen oder geschichtsträchtigen Regionen, sondern eben in Raiston. Ehemals ein Knotenpunkt des US-amerikanischen Zugverkehrs, ist es nun ein Ort wie jeder andere in den weiten Provinzen der USA. Der Verfall ehemaliger Bedeutsamkeit beschreibt die Lage der Kleinstadt.

Ein Zyniker der feinsten Sorte

Dieser Verfall zieht sich auch durch das Kollegium der Englisch-Fakultät. Devereaux, genannt Hank, ist ein Akademiker der mittleren Stufe, der wenig forscht, aber Kreatives Schreiben unterrichtet. Er ist nach langen Jahren zu einem Ironiker und Zyniker der feinsten Sorte geworden. Ironisch deswegen, weil es ihn in eine Distanz zu der erlebten und nicht veränderbaren Wirklichkeit setzt; zynisch, weil nur der Zyniker die Wahrheit dessen, was ist, erkennen kann. Das gesamte Kollegium wirkt ambitionslos und erschöpft, erinnert an den universitären Alltag heutzutage, wenn die Lehrenden „misstrauischen, geschlossenen Zirkeln angehören, denen es weniger daran gelegen ist, miteinander zu reden, als ihr Revier abzustecken und ihre eigene Agenda zu verfolgen“, oder, schnöde, eine unbefristete Stelle zu ergattern. Das wirkt sich dann auch unmittelbar auf die Studierenden aus, die in den Seminaren gerade nicht Pluralität, sondern Konformismus und Engstirnigkeit ihrer Dozent*innen erleben. Dass die Studierenden dann streitsüchtig, fordernd, etwas spießig und langweilig werden, liegt eben auch an den Vorbildern.

Bei der Lektüre stellt sich die Frage, ob angesichts der Komplexität der Universität die Ich-Perspektive, die Russo wählt, angemessen ist. Sowieso: Die großartige Kunst dieses Romans liegt mehr in der Inszenierung der Gespräche und der Schilderung universitärer Interaktion, die den Lesenden lachen und manchmal weinen lässt.

Beide Romane fragen nach der Identität der Universität, also nach dem, was nach der Reform eigentlich übrig bleibt. Bittersweet sozusagen. Die Bilder, die die hier erwähnten Romane und Filme von der Universität entwerfen, sind notwendigerweise fiktiv. Und doch sind sie realistisch. In der Universität lassen sich gesellschaftliche und politische Veränderungen und die damit zusammenhängenden Probleme wie in einem Brennglas beobachten. Identitätspolitik ist so ein Beispiel. Der Rückzug auf das, was man ist, und nicht auf die Rolle, die man in der Institution und in der Gesellschaft auszufüllen hat, gilt als politische Geste. Der Rückzug in die „safe spaces“ scheint Ausdruck einer intellektuellen „Berührungsfurcht“ (Elias Canetti). Berührungsphobiker lassen sich nicht mehr von dem, was ihrer Meinung widerspricht oder Diskurshorizonte eröffnet, irritieren. Sie kündigen die unbedingte Bereitschaft des Fragens auf, die ja Bedingung von Wissenschaft ist. Es ist problematisch, wenn Gegenstände von Fächern, insbesondere in den Sozial- und Geisteswissenschaften, moralisch aufgeladen werden. Moral, auch das wissen wir seit Niklas Luhmanns Untersuchungen zur gesellschaftlichen Funktion der Moral, teilt die Welt nicht mit, sondern ein. Sie wird dann vulgär, wenn Fachkollegen als Feinde der moralischen Aufklärung denunziert werden. Der berühmte französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss unterschied heiße von kalten Gesellschaften. Kalte Gesellschaften ergeben sich dem Kreislauf der Dinge und der Tradition, der sich nicht wesentlich ändert, während heiße Gesellschaften eine linear-expansive Bewegung in die Zukunft nehmen. Es scheint so, als ob die Universität und ihre Kultur eine kalte Einrichtung in einer heißen Gesellschaft ist. Die Erhitzung der Gemüter und der Diskurse sollte eigentlich an der Grenze zwischen Universität und Gesellschaft haltmachen und in die Kühle der akademischen Diskussion überführt werden. Nicht immer ist das möglich, weil die Universität, wie jede Organisation, es nicht mit Automaten, sondern mit Menschen zu tun hat. Der Campusroman kann von all dem erzählen.

Markus Steinmayr lehrt deutschsprachige Literatur an der Universität Duisburg-Essen

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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