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Bundespräsident | Keine Leidenschaft für die Demokratie


Link [2022-02-01 12:13:25]



Frank-Walter Steinmeier verkörpert die Berliner Blase wie kein anderer. Weshalb seine Wiederwahl eine vertane Chance ist

Frank-Walter Steinmeier wird am 13. Februar zum zweiten Mal zum ersten Mann im Staate gewählt werden – mit den Stimmen einer ganz großen Koalition von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP. Doch was als gewaltige Einhelligkeit daherkommt, ist in Wahrheit eine große vertane Chance. Zum einen wurde die Möglichkeit verspielt, nach bald 75 Jahren und zwölf Präsidenten endlich eine Bundespräsidentin zu küren. Und zum Zweiten hätte die Chance bestanden, aus der Berliner Blase hinauszudenken und mit der Wahl eines Nicht-Politikers der immer größer werdenden Entfremdung zwischen Bevölkerung und Politik entgegenzuwirken.

„Die Distanz zwischen politischem Personal und ‚Volk‘ ist größer geworden, sie ist heute vielleicht größer als in Weimar, ja selbst im Bismarckreich.“ Dies stellte vor 50 Jahren der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis fest. Damals, im Jahre 1973, mag die Analyse reichlich alarmistisch gewesen sein – die beiden Volksparteien, Union und SPD, erzielten in den 1970er Jahren Rekordergebnisse deutlich über 40 Prozent und die Wahlbeteiligung erreichte einen neuen Höhepunkt.

Heute dagegen klingt Hennis’ Warnung dramatisch aktuell. Denn während damals das Ressentiment gegen „das System“ vor allem von den Rändern kam, wuchert es heute direkt in der vermeintlichen Mitte der Gesellschaft – und es droht zunehmend jede progressive Politik, ob im Kampf gegen Corona oder die Klimakrise, unmöglich zu machen.

Der neue Extremismus der Mitte artikuliert sich auf fast jeder Anti-Corona-Demonstration. Nach bald zwei Jahren Krise entlädt sich hier der ganze aufgestaute Frust, der aber zum Teil wesentlich älteren Datums ist. Beginnend mit dem Staatsabbau in Ostdeutschland in den 1990er Jahren über Hartz IV 2002 und die Fluchtkrise von 2015 hat sich enormes Ressentiment gegenüber dem Staat, seinen Institutionen wie seinen Politikern, aufgebaut.

Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang erkennt unter den Gegnern der Corona-Politik bereits eine neue Szene von Staatsfeinden, die sich nicht mehr eindeutig den bisherigen Kategorien des Rechts- oder Linksextremismus zuordnen lasse. Was sie dagegen verbinde, sei die fundamentale Verachtung des demokratischen Rechtsstaates und seiner Repräsentanten.

Tatsächlich ist die Kluft zwischen einer in Teilen immer renitenter und unziviler werdenden „Zivilgesellschaft“ und den Institutionen heute so groß wie noch nie zuvor in der Geschichte der Republik. Deswegen käme es gerade im Amt des Bundespräsidenten umso mehr auf die Überwindung dieser Kluft an. Doch kaum jemand verkörpert das Berliner Paralleluniversum so sehr wie der ewige Steinmeier. Von den vergangenen 24 Jahren befand er sich 20 in Regierungsfunktionen. Damit ist der Schröder-Zögling der Inbegriff der Berliner Regierungsblase und weit entfernt von der Volksnähe früherer Präsidenten. Nennenswerte Interventionen der vergangenen fünf Jahre sind nicht erinnerlich. Nicht weiter zu stören, war Steinmeiers Maxime.

Doch was ihm nun Erfolg, nämlich die Wiederwahl beschert, ist für das Land zu wenig. Gerade weil der Regierung, speziell dem Kanzler, schon jetzt der Mut zu fehlen scheint, die Menschen von der notwendigen sozial-ökologischen Transformation zu überzeugen, wäre es an der Zeit gewesen, eine engagierte Person jenseits des Politikbetriebes zu nominieren. Auch um so endlich die dringend nötige Aufbruchsstimmung zu schaffen, die die Ampelkoalition bislang nur verspricht.

Dafür braucht es eine Person, die voller Leidenschaft für Demokratie und die Bewältigung der großen Zukunftsaufgaben streitet. Eine Person vor allem, die die Brücke schlagen kann zwischen den Generationen. Etwa eine Transformationsforscherin wie Maja Göpel mit ihrem engagierten Kampf gegen die Klimakrise oder eine Medizinethikerin wie Alena Buyx mit ihrer Aufklärung gegen Corona oder eine Journalistin wie Dunja Hayali mit ihrem mutigen Einsatz für eine offene, liberale und tolerante Gesellschaft.

Sie alle, jede für sich und auf ihre Art, hätten die offizielle Politik mit ihrem Einsatz für die Demokratie stärken und damit die Bevölkerung wieder näher an die Parteien heranführen können. Diese Chance wurde kläglich vertan.

Umso mehr ist es der Linkspartei zu danken, dass sie mit dem Obdachlosen-Arzt Gerhard Trabert aus Mainz einen eigenen Kandidaten aufgestellt hat. Sie verdient Dank aus drei Gründen: Zum Ersten hat sie damit verhindert, dass der einzige Gegenkandidat ein rechtsextremer AfD-Mann sein wird. Zum Zweiten ruft Trabert die soziale Frage auf, die sich in der Corona-Krise massiv zugespitzt hat und trotzdem in der Ampelkoalition kaum vorkommt. Zum Dritten schlägt der Kandidat der Linken genau die erforderliche Brücke in die Gesellschaft und trifft damit das Unbehagen vieler an einem bloßen „Weiter-so“ mit Steinmeier.

Deswegen spricht einiges dafür, dass Trabert am 13. Februar deutlich mehr als die 71 Stimmen der Linkspartei erhalten wird. Es wäre auch ein Zeichen dafür, dass die Politik eine Menge an Potenzial in der Gesellschaft verschenkt, das sie beim harten Überzeugungskampf für eine andere, ökologischere und gerechtere Zukunft noch dringend brauchen wird. Und dass sie sich diese Chance jedenfalls beim nächsten Mal nicht wieder entgehen lassen darf – auch wenn es erst in fünf Jahren sein wird.

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