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Biopic | Ein Blick auf den Urin reicht


Link [2022-01-22 19:40:11]



Agnieszka Holland erzählt in „Charlatan“ die ambivalente Karriere des tschechischen Naturheilers Jan Mikolášek

Als Charlatan im Februar 2020 auf der Berlinale Premiere feierte, war noch nicht abzusehen, in welcher Stimmung er sein Publikum zum regulären Kinostart erreichen würde. Kurz bevor die Pandemie hierzulande mit voller Wucht einschlug, besaßen die Themen von Agnieszka Hollands Historiendrama über den tschechischen Naturheilkundler Jan Mikolášek noch nicht dieselbe Brisanz. War die Naturmedizin zuvor schlicht eine, wenn auch oft belächelte, Alternative, haftet ihr mittlerweile in stärkerem Maße etwas Anrüchiges an. Praktizierende und Patienten werden zunehmend als wissenschaftsfeindlich, irrational, sogar als bedrohlich wahrgenommen, seit der Konflikt mit der Schulmedizin offener zutage getreten ist – und sich auch anthroposophische Mediziner unter die Querdenker-Szene gemischt haben.

Agnieszka Holland und Marek Epstein, der das Drehbuch zu Charlatan verfasste, präsentieren den Helden ihrer Filmbiografie, Jan Mikolášek, zwar als kräuterkundigen „Wunderheiler“, nicht aber als jemanden, der für Verschwörungserzählungen oder eine Einmischung ins politische Geschehen anfällig gewesen wäre. Mehr noch: Ihr Mikolášek, den Ivan Trojan als beherrschten Individualisten verkörpert, würde derlei wahrscheinlich als vulgär, zumindest aber als eine fahrlässige Form der Zeitverschwendung empfinden.

In seiner Villa in der Nähe von Prag folgt Mikolášek mit katonischer Strenge seiner eigenen Agenda. Den Menschen beizustehen, erachtet er als seine erste Pflicht. Ein Leben jenseits davon existiert nicht, weshalb sich ein Gros des Films innerhalb der für einen Prachtbau recht tristen Mauern abspielt, wo Mikolášek täglich über 200 Hilfesuchende empfängt. Durch die überwiegend bläulich-fahle Kolorierung verstärkt Holland die ohnehin bleierne Atmosphäre. Sie passt zur Nüchternheit des Protagonisten, lässt den sich nur langsam Fahrt aufnehmenden Charlatan aber auch behäbig wirken.

Als Farbpunkte stechen die mit Urin befüllten Fläschchen hervor, die jeder seiner Patienten mitbringen muss. Denn Mikolášeks Geschick besteht darin, daraus das jeweilige Leiden ablesen zu können. Dafür hebt er die Flüssigkeit wenige Momente vor das Licht und diktiert dann Diagnose und Therapievorschlag – meist Kräutermischungen, die er selbst zusammengestellt hat – seinem Assistenten František Palko (Juraj Loj).

Protegiert vom Präsidenten

Dass die nicht gerade günstig seien, heißt es an einer Stelle, dass er einer bedürftigen Familie, die sich die empfohlene Fahrt an die See nicht leisten kann, ein Bündel Geldscheine in die Hand drückt, ist an einer anderen zu sehen. Während der Film seinem Helden in moralischer Hinsicht einige Ambiguität zugesteht, lässt Holland in ihrer Interpretation keinerlei Zweifel daran, dass Mikolášek tatsächlich erstaunliche Fähigkeiten besaß.

Unweigerlich drängt sich die Frage auf, was heute an einer Figur interessiert, deren Herangehensweisen derart undurchsichtig und anachronistisch wirken. Einerseits ist es wohl gerade dieser Konflikt mit unserem rationalistischen Zeitgeist, der aus Mikolášek ein Faszinosum macht.

Andererseits wird Mikolášeks Biografie zusätzlich durch die Aufmerksamkeit bemerkenswert, die ihm seine Außerordentlichkeit gegenüber den politischen Machthabern einbringt: In den 1930ern und 40ern behandelt er unter anderem eine Nazi-Größe wie Martin Bormann, später hochrangige Apparatschiks der dann kommunistischen Tschechoslowakei.

Mit der Berichterstattung über den Tod von Mikolášeks einflussreichstem Unterstützer, dem Präsidenten Antonín Zápotocký, eröffnet der Film. Wozu fragt man sich zunächst, später wird klar: Ohne Schutz von ganz oben setzt die Staatssicherheit zu seiner Verfolgung an. Dass er seinen Besitz nicht verstaatlichen lassen will und seine Dienstleistungen in Konkurrenz zum Gesundheitssystem stehen, das hat ihn in Ungnade fallen lassen.

Dass Mikolášek und sein Assistent keinerlei Chance haben, gegen die erhobene Anklage anzugehen, steht von Anfang an fest. Es handelt sich um einen typischen Schauprozess. Der Verwurf, absichtlich Patienten, ausgerechnet verdiente Parteimitglieder, vergiftet zu haben, ist fingiert, ebenso sind es die vermeintlichen Beweise.

Nach seiner Verhaftung wird das Gefängnis zum zweiten, nicht minder bleifarbenen Handlungsort. Wenngleich Charlatan auch in der zweiten Hälfte visuell nicht eindrucksvoll ist, finden sich in ihr die spannenderen Verweise auf den Werdegang des Helden. Durch die Befragungen in Untersuchungshaft werden Rückblenden in seine Jugend, Erinnerungen an den Krieg, einen herrischen Vater und eine alte Frau, von der er das Lesen aus dem Harn und den Umgang mit Naturheilpflanzen lernte, eingeflochten.

Durch die Gespräche mit seinem jungen Pflichtverteidiger wird ein weiterer Aspekt beleuchtet, der Mikolášeks Leben vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts außergewöhnlich macht: die Liebe zu seinem bereits erwähnten langjährigen Assistenten Palko. Die Einstellungen, die ihre geheime Beziehung einfangen, sind im Grunde die einzig lichten Momente im Film. Auch wenn Charlatan durch sie mehr Vitalität gewinnt – von Leichtigkeit sind die Szenen dennoch nicht geprägt.

Dass es Agnieszka Holland bis zum Ende gelingt, Mikolášek etwas Geheimnisvolles und Unaufgelöstes zu lassen, ist die große Stärke von Charlatan. Die Frage, warum Menschen sich immer wieder für Figuren wie Mikolášek begeistern, sich von ihnen mitunter verführen lassen an etwas zu glauben, das persönlichen Grundsätzen widerspricht, macht den Film erstaunlich aktuell. Und das tröstet am Ende sogar über ein paar erzählerische Längen hinweg.

Info

Charlatan Agnieszka Holland Tschechien / Polen 2021, 118 Minuten

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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