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Bio- und Chemiewaffen | Chemiewaffen im Ukraine-Krieg: Was steckt hinter den Vorwürfen?


Link [2022-04-22 10:53:59]



Russland und die Ukraine werfen sich gegenseitig den Einsatz chemischer und biologischer Waffen vor. Die Faktenlage ist dünn. Darin aber nur Kriegspropaganda zu sehen, wäre ein großer Fehler

Russland wirft der Ukraine vor, geheime Biowaffenlabore zu betreiben. Im Gegenzug behaupten ukrainische Soldaten in Mariupol einen Angriff mit chemische Waffen. Beides jeweils ohne den Hauch eines Beleges. Um zu verstehen, was hier gerade passiert, müssen wir 19 Jahre zurückblicken.

Am 5. Februar 2003 präsentierte der damalige US-Außenminister Colin Powell im UN-Sicherheitsrat die Mutter aller Biowaffen-Lügen, über Saddam Husseins angebliche mobile Biowaffenlabore und über Milzbrandpulver, mit dem man die ganze Welt ausrotten könne. Sechs Wochen später griffen die USA den Irak an, mit katastrophalen Folgen für die ganze Region. Bis heute.

Wie brachial diese Lüge war, offenbarte sich mir erst zwei Jahre später. Als frischgebackener UNO-Biowaffen-Inspekteur saß ich 2005 in meinem Großraumbüro am East River in New York und wertete die Berichte der Inspektionen aus den 1990er Jahren aus. Spannende Lektüre, denn über vier Jahre hatte die irakische Regierung ein jegliches Biowaffenprogramm geleugnet. Vier lange Jahre trugen die Inspekteure Indiz um Indiz zusammen, bis sie 1995 endlich das Puzzle gelöst hatten. Das war der Moment, als die irakische Regierung einknickte – und dann alles, aber wirklich alles über ihr früheres Biowaffenprogramm offenlegte. Alle Bestände und früheren Produktionsanlagen wurden von der UNO restlos vernichtet. Die Inspektionsberichte ließen keinen Zweifel, die detailreichen Schilderungen der verschiedenen irakischen Geheimnisträger waren glasklar: Von diesem Moment an gab es keine Biowaffen mehr im Irak.

Alle Beteiligten – auch die US-Regierung – wussten das. Es gab keine offenen Fragen mehr, es gab nur noch Propaganda-Lügen, um im Zweifelsfall einen neuen Krieg gegen den Irak begründen zu können. Natürlich ist das eine Lektion, die viele Kriegsparteien in aller Welt sich sehr wohl gemerkt haben. Biowaffen als Kriegsgrund gehen immer. Und wenn nicht, kann man sich hinter den breiten Schultern eines Colin Powell verstecken. Es gibt heute kaum noch einen bewaffneten Konflikt, in dem nicht der Vorwurf erhoben wird, die jeweils andere Seite habe biologische oder chemische Waffen eingesetzt. Meist von beiden Seiten.

Bio- und Chemiewaffen gefährlicher als Atombomben

So auch jetzt im Ukraine-Krieg. Da machte Russland den Anfang und behauptete, die USA finanzierten geheime Biowaffenlabore in der Ukraine. Mit einem guten Gespür für Details berief Russland am 18. März, fast auf den Tag genau 19 Jahre nach der US-Invasion im Irak, eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates ein. In deutlicher Anlehnung an Powells Auftritt von 2003 präsentierte der russische UN-Botschafter Vasily Nebenzya Fotos angeblicher Biowaffenlabore in der Ukraine. Der Aufschrei weltweit war groß, von der Russia-Today-Fraktion in Deutschland bis hin zu Fox News in den USA stürzten sich alle auf die ukrainisch-amerikanischen Biowaffen. Was steckt dahinter?

Biologische Waffen sind vor allem lebende Organismen, also Krankheitserreger, die gezielt gegen einen Gegner eingesetzt werden. Das Vernichtungspotenzial ist enorm. Wer heute zum Beispiel Pockenerreger als Waffe einsetzte, könnte damit einen großen Teil der Weltbevölkerung töten. Der Erreger wird von Mensch zu Mensch weitergegeben, rund um den Globus, wir kennen das von Corona. Nur dass die Pocken meist tödlich verlaufen und kaum noch jemand einen Impfschutz dagegen hat.

Der Einsatz biologischer Waffen ist schon seit hundert Jahren durch die Genfer Konvention völkerrechtlich verboten. Seit 1975 ist die Biowaffenkonvention in Kraft, die auch die Entwicklung, Herstellung und Lagerung solcher Waffen verbietet. Während die US-Amerikaner daraufhin tatsächlich ihre großen Anlagen zur Massenproduktion gefährlicher Erreger einstampften, hat die Sowjetunion bis ins Jahr 1992 ein umfangreiches illegales Biowaffenprogramm weitergeführt – zum Teil auch in Laboren auf dem Gebiet der heutigen Ukraine.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion galt es, diese Labore und ihre tödlichen Erreger zu sichern. Versehentliches Entweichen („biosafety“) musste genauso verhindert werden wie Diebstahl oder Ähnliches („biosecurity“). Dafür wurde international viel Geld mobilisiert, neue Forschungskooperationen wurden aufgelegt, nicht zuletzt, um Forschenden eine Perspektive zu geben, auf dass sie ihr Wissen nicht an andere Staaten oder Terrororganisationen weitergeben. Bis heute noch gibt es Finanzierungen aus aller Welt für biologische Labore in der Ukraine. Auch die Paul-Ehrlich-Institute in Jena und Greifswald forschten gemeinsam mit Laboren in Kiew und Charkiw, unter anderem an Milzbranderregern. Die Forschungsergebnisse wurden in Fachzeitungen veröffentlicht, nichts daran ist geheim oder verwerflich – Milzbrand ist nicht nur eine Biowaffe, sondern auch ein natürlicher Krankheitserreger, der bis heute in der Ukraine auftritt und bekämpft werden muss.

Es ist ein nachvollziehbarer Reflex, bei einer Finanzierung von biologischen Laboren durch die USA erst einmal Fragen zu stellen. Aus den Recherchen von Nichtregierungsorganisationen Anfang der 2000er Jahre wissen wir, dass die USA tatsächlich bestimmte Biowaffenforschungen durchgeführt haben, die Geist und Wortlaut der Biowaffenkonvention verletzen, weil sie auch offensiven Charakter haben. Es gibt bis heute sehr gute Gründe, den USA in Sachen Biowaffen zu misstrauen. Allerdings wird eine derart heikle und hochsicherheitsrelevante Forschung garantiert nicht in anderen Ländern durchgeführt, wo Geheimhaltung und Sicherheit bei Weitem nicht so gut gewährleistet sind wie zum Beispiel in Fort Detrick, Maryland. Vor allem würde eine solche militärische Forschung nicht veröffentlicht werden. Es ist deshalb höchst unwahrscheinlich, dass irgendetwas an den russischen Vorwürfen dran ist. Sie sind eine gelungene Kopie der US-amerikanischen Kriegslügen von 2003, nicht mehr und nicht weniger.

Die Gegenpropaganda ließ nicht lange auf sich warten. Kiew und Washington warnten lautstark, Russland könne zum Einsatz chemischer Waffen greifen. Verwiesen wird dabei oft auf die „Tradition russischer Giftanschläge“, etwa gegen Aleksei Nawalny und Sergei Skripal – oder auf die Chemiewaffeneinsätze in Syrien.

Tatsächlich hat die syrische Armee mehrfach chemische Waffen eingesetzt, meistens Chlorgas, in mindestens einem Fall das Nervengift Sarin. Russland hat das seinerzeit politisch und diplomatisch gedeckt, war aber nach heutigem Kenntnisstand nicht aktiv an den Angriffen beteiligt.

Russland verfügt über Technologien zur Produktion von Chemiewaffen

Im Kalten Krieg hatten beide Großmächte ein unfassbar großes Arsenal an tödlichen Nervengiften, zum Teil schon einsatzbereit abgefüllt in Raketen und Granaten. 1993 wurde dann die Chemiewaffenkonvention verhandelt, die nicht nur die Entwicklung, Produktion und Lagerung dieser Waffen verbietet, sondern auch regelmäßige Kontrollen in allen Staaten vorsieht. Unter der Aufsicht der Organisation zum Verbot chemischer Waffen (OPCW) wurden bis heute rund 99 Prozent der bekannten Chemiewaffenbestände aus Zeiten des Kalten Krieges vernichtet – ein sehr langwieriger Prozess, denn diese hochgiftigen Chemikalien müssen sicher und komplett zerstört werden.

Da das alles unter den Argusaugen der OPCW stattfand, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Russland heute noch größere Bestände an alten Chemiewaffen oder gar abgefüllten Granaten besitzt, die jetzt einsatzbereit wären. Allerdings verfügt das Land natürlich über die Technologie und könnte im Zweifelsfall jederzeit wieder in die Produktion einsteigen. Hinweise darauf gibt es bislang jedoch keine, es ist also alles reine Spekulation.

Würde Russland chemische Waffen in der Ukraine einsetzen, etwa bei seiner nun gestarteten Offensive im Donbass? Das kann niemand ausschließen bei einer Regierung, die offen mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht hat. Je nach Kriegsverlauf ist vieles denkbar. Rein militärisch aber machen chemische Waffen in der aktuellen Lage nur beschränkt Sinn. In Syrien hat Baschar al-Assad die Chlorgasangriffe vor allem zur psychologischen Kriegsführung benutzt: Menschen versteckten sich in Kellern vor den Bomben, dort sammelte sich dann das Chlorgas, das schwerer ist als Luft – die Menschen hatten keinen sicheren Ort mehr. Das war reiner Terror. Ob ähnliche Strategien künftig in der Ukraine verfolgt werden, vermag im Moment niemand zu sagen.

Am 11. April gab es den ersten konkreten Vorwurf aus der Ukraine, allerdings bei äußerst dünner Faktenlage: Das ukrainische Asow-Regiment in Mariupol teilte über Telegram mit, dass eine Drohne eine unbekannte Substanz über der Stadt abgeworfen habe. Ein bloße Behauptung, ohne weitere Indizien. Es gibt keine Fotos von dem Vorgang, die wenigen Schilderungen von Betroffenen geben keinerlei Hinweise auf den tatsächlichen Einsatz einer Chemikalie. So dünn wie in Mariupol waren Chemiewaffen-Vorwürfe selten: eine Kurznotiz auf Telegram, mehr nicht.

Trotzdem gilt auch hier ein wichtiger Grundsatz, wenn der Einsatz biologischer oder chemischer Waffen behauptet wird: Nie glauben, immer ernst nehmen! Und wenn möglich, unabhängig untersuchen.

Niemals glauben, weil Bio- und Chemiewaffen in den vergangenen Jahrzehnten vor allem Propagandawaffen waren. Trotzdem ist es keine Option, Vorwürfe einfach zu ignorieren, denn manchmal stimmen sie eben doch. Biologische und chemische Waffen sind zu Recht geächtet und schon lange mit internationalen Verboten belegt. Sie wirken unkontrollierbar auch gegen die Zivilbevölkerung, sie erzeugen Terror und sind manchmal echte Massenvernichtungswaffen, deren Wirkung selbst die von Atombomben in den Schatten stellen kann.

Deshalb muss jeder Einsatz dieser horrenden Waffen aufgeklärt und vor Gericht gebracht werden. Straflosigkeit würde Nachahmer animieren. Die global sehr fest verankerte Norm gegen Bio- und Chemiewaffen würde schnell erodieren.

Eine unabhängige Untersuchung ist in der aktuellen Kriegssituation in Mariupol sicherlich schwer, aber nicht unmöglich. Wenn Menschen mit der Substanz in Kontakt gekommen sind, können etwa Gewebeproben auch noch viele Tage später Nachweise liefern. Ermittlungen können noch weit in eine Nachkriegsordnung hineinreichen, wenn Dokumente öffentlich werden oder Beteiligte anfangen zu reden.

Noch ermittelt die OPCW nicht, sie kann das nur auf Anforderung eines Mitgliedsstaates tun, eine solche gibt es bislang nicht. Offenbar reichten selbst der ukrainischen Regierung die Hinweise aus Mariupol nicht für die Einleitung eines formellen Verfahrens, sonst hätte sie bereits die OPCW als neutrale Untersuchungsinstanz eingeschaltet. Hoffen wir, dass es dazu auch künftig nicht kommen wird.

Jan van Aken, promovierter Biologe, arbeitete als Gentechnikexperte für Greenpeace und von 2004 bis 2006 als Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen. Zwischen 2009 und 2017 war er Abgeordneter der Linksfraktion im Bundestag. Heute arbeitet er zu Sicherheits- und Friedenspolitik für die Rosa-Luxemburg-Stiftung

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