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Baltikum/Russland | Die Heiterkeit steht auf dem Spiel


Link [2022-06-05 15:09:08]



Das kleine Lettland teilt eine Grenze und eine lange Geschichte mit Russland. Mal fühlen sie sich vom Nachbarn bedroht, mal befreit. Wie reagieren sie hier auf den Krieg in der Ukraine? Eine Reportage

Hier kann man beginnen, Zilupe ganz im Osten, zweite Maiwoche, über dem Güterbahnhof ist die Sonne aufgegangen. Etwas über tausenddreihundert Menschen leben ringsum, der Ort wirkt eher wie ein Fleck um den Bahnhof, der sich ausgebreitet hat: Holzhäuser, Spitzdächer, Obstgärten, Zäune. Ein Hahn kräht. Der Name kommt aus dem Lettgallischen, leitet sich von dem Wort sīna ab: Grenze. „Vom Land lebt man hier“, sagt Ljuba, wir gehen über den Asphaltstreifen vor dem Bahnhof, gerade ist ein wenig Schnee gefallen, „und der Grenze.“

Ljuba hat die Nacht über Züge abgefertigt, klingt fröhlich, ihre Schicht dauert zwölf Stunden, die Züge kommen aus Russland. Ljuba ist in einem Dorf in der Nähe geboren, sie heißt anders, ihren Namen in eine Zeitung zu drucken, würde sie nervös machen. Sie schaut zu den Gleisen in Richtung der EU-Außengrenze, ganz im Osten von Lettland. Sie mag ihre Arbeit mit den Zügen, wie alle hier spricht sie Russisch und will nicht, dass es Schwierigkeiten gibt.

Ljuba, geboren 1980, war auf einer russischsprachigen Schule, hat ihre Ausbildung auf Russisch gemacht. Wenn man sie fragt, zögert sie keinen Moment: „Ich bin Russin.“ Aber du hast einen lettischen Pass? „Selbstverständlich“, wieder kein Zögern, sie war noch nie in Russland. Die Federung ihres Audis hat bessere Tage gesehen, wir fahren an einem Helikopterstützpunkt der Grenztruppen vorbei, NATO-Einheiten operieren hier. Ljuba wohnt in Ludza, im Osten des Landes, in Lettgallen.

Wie blicken sie auf den Krieg?

Ludza, eine Stadt im Sonnenschein, liebliche Hügel, See, Burgruine, geweißte Türme der katholischen Kirche. Sieben Synagogen gab es hier, als 1940 die Rote Armee kam, wurden sie geschlossen; als ein Jahr später die Wehrmacht kam, wurden die Juden in ein Ghetto gesperrt. Wenig und ungern redet man in Lettland darüber, dass die Juden vergewaltigt, beraubt und zu Hunderten erschossen wurden: von Nachbarn, lettischen Hilfspolizisten, angeleitet von SS und Wehrmachtsoldaten.

Zu Sowjetzeiten gab es in baltischen Ländern oft bessere Versorgung mit Lebensmitteln, Städte wurden modernisiert, Industrie angesiedelt. Das half, die „Russifizierung“ voranzutreiben: Lettische National-Kommunisten rangen der KPdSU die offizielle Verwendung der lettischen neben der russischen Sprache ab. Lettland war Nettozahler für die Union. Mit der Unabhängigkeit 1990 wurden 35 Prozent zu einer russischsprachigen Minderheit im Land – so viele wie nirgends in Europa. Was bedeutet das für das Verhältnis zum Nachbarn? Und: Wie gehen sie hier mit dem Krieg um?

In der offiziellen Geschichtsschreibung wird die Zeit zwischen 1945 und 1990 als „zweite sowjetische Besetzung“ überschrieben. Ausstellungen und Gedenktage stellen häufig einen Zusammenhang zwischen nationalsozialistischen und sowjetischen Machthabern her. Ein Begleittext zur Ausstellung über die Geschichte der Besetzung notiert, dass ab 1940 das sowjetische Regime die Vorarbeit dafür geschaffen hätte, was sie später erreichte: „Eine komplette Unterjochung und Sowjetisierung der Letten und eine Kolonisierung des Landes. Die Brutalität der sowjetischen Herrschaft legte auch die Fundamente für die Nazi-Besatzung, indem sie dieselbe Art der Kooperation der erleichterten Bevölkerung möglich machte. Solch eine Zusammenarbeit gab später der sowjetischen Obrigkeit die Instrumente von Einschüchterung und Unterdrückung in die Hand.“ Die lettische Gesellschaft taucht in all dem nur als Opfer auf, das die Besatzung erduldete, zur Kollaboration gezwungen war.

Ljuba sagt beim Tankstellenkaffee, dass für die russische Armee hier wenig zu holen wäre: Die Menschen lebten einfach, viele seien Handwerker, zögen ab und an ins Ausland, eine Firma arbeitet mit Metall. Man könne sich gut aus den Gärten ernähren. Sie lacht, hebt den Zeigefinger und sagt: „Wenn die russische Armee überhaupt noch Kraft hat, zu kommen.“ Der Median-Lohn nach Steuern, also das Einkommen, das exakt die Hälfte der Haushaltseinkommen markiert, liegt hier bei 479 Euro. Im Monat.

Überall blau-gelbe Farben

Was hat sich verändert seit der russischen Besatzung von Teilen der Ukraine im Jahr 2014? Und seit Kriegsbeginn im Februar? In Ljubas Gesicht spannt sich etwas, sie hebt das Kinn, spitzt die Lippen, „Oi, oi, oi“, solche Fragen, sie zuckt mit den Schultern. Vielleicht liege es an der Geschichte der Region, die mal zum polnisch-litauischen, mal russischen Reich gehörte, dem Kommen und Gehen. „Wir sind hier fatalistisch“, sagt sie nach einer Weile, die Dinge würden immer woanders entschieden. Pause, Schluck vom Kaffee. „Wir müssen das Beste daraus machen.“ Aber hängt hier jemand eine ukrainische Fahne raus? Das Beste sei oft, sich zu ducken, antwortet Ljuba auf diese Frage.

Wer einen Koffer in den Bus nach Riga mitnehmen will, zahlt extra. Marias Koffer hat einen Stoffüberzug, bedruckt mit dem Kolosseum, Pizza, einer Vespa. Maria lebt in Moskau und in Riga, ihr kleiner Sohn wächst in der russischen Hauptstadt auf. Ihr erwachsener Sohn lebt in Riga, genau wie ihre Eltern. Am nächsten Tag, Spaziergang durch die lettische Hauptstadt, wird sie sich wundern: überall ukrainische Farben, Solidaritätsbekundungen. Doch vorher öffnet sich vor den Busfenstern die Landschaft, mit Winterweizen als grünem Flaum an Schotterstraßen, Felder wirken, als hätten die Bauern sie den Sümpfen mühsam abgerungen.

Soll abgerissen werden: sowjetisches Siegesdenkmal in Riga

Foto: agefotostock/IMAGO

In Riga kann man auch Mārtiņš Kaprāns treffen, der ein wenig wie ein fünfter Beatle aussieht. Er ist Soziologe und untersucht seit Langem die russischsprachige Minderheit im Baltikum: eine sehr heterogene Gruppe, wirtschaftlich, politisch, habituell. In Lettland sammeln sie sich im Osten, machen bei Zilupe und in der Industriestadt Daugavpils rund die Hälfte der Bevölkerung aus. Von dort blicken sie nach Osten. In und um Riga leben über 35 Prozent, die sich einer „russischen Ethnie“ zugehörig fühlen, hier oft wohlhabender, schauen nach Westen. Etliche seien mit viel Geld über Lettland in die EU eingewandert. Zwischen all dem gebe es rund zehn Prozent, die sich als Ukrainer oder Belorussen identifizieren. Gerade die, Kaprāns hat aktuelle Studien über politische Einstellungen parat, hätten überhaupt keine Lust, als Russen gesehen zu werden. Lettische Russen haben oft wenig mit russischen Russen zu tun.

Seine Untersuchungen beschäftigen sich häufig mit politischen Einstellungen: Putin und den Krieg in der Ukraine unterstützen sie in der Hauptstadt weniger, im Osten mehr. Bereits seit 2014 hatten sich die Positionen voneinander entfernt, wurde das „Fünfte Kolonne“-Vorurteil unter Letten lauter: Alle Russen unterstützen den Kreml. Das Vorurteil würde deutlicher in Regionen, in denen mehr Letten leben. Gemeinsam mit der Haltung, dass Russen hier nicht hergehörten.

Am späten Nachmittag ist es still in Riga, etliche Ladenlokale sind ausgeräumt. Maria erzählt, dass auch sie auf einer russischen Schule war. Ihre Vorfahren waren Russen, sie hat Jahre im Ausland gelebt. Sie schaut sich um, dann wechseln wir ins Italienische, jetzt kann sie freier erzählen: Sie möchte nicht, dass jemand etwas hört, etwas weitergibt, das ihr dann den Weg über die Grenze verschließt. Maria hat 1992 die Schule abgeschlossen. Wenn man rechnet, lächelt sie, denn auch in diesem Jahr will sie nicht 45 Jahre alt werden. Einige Ausbildungsplätze und Jobs hat sie nicht bekommen, weil ihr Lettisch zu schlecht sei, auf eine Stelle in der Stadtverwaltung hätte sie keine Chance gehabt. Sie erzählt beim Spaziergang durch die Altstadt von etwas, das sie „lettischen Nationalismus“ nennt.

Putin ist da keine Hilfe

„Wer will es ihnen verdenken?“, sagt sie, ihr Italienisch hilft mit einem Klagelaut. Viele Russen hätten zu Sowjetzeiten gesagt: „Jetzt zeigen wir denen mit der Hundesprache mal, was Zivilisation ist.“ Als sie einen Job verlor, packte sie ihre Koffer, zog nach Moskau, erst dort habe sie atmen können. Und jetzt? Irritierter Blick. Sie verdiene Geld, die Dinge würden funktionieren.

Mārtiņš Kaprāns hat von einem Zusammenhang gesprochen, für den man am Abend die breite Düna überspringen und mit der Tram zum Uzvaras-Park fahren muss: Etwas Licht hält sich noch am Himmel, einer trainiert für den Sommerlanglauf, seine Stockspitzen scharren hart neben dem raumgreifenden Mahnmal über Asphalt. Ein Wachmann steht mit gelber Weste vor dem eingezäunten „Denkmal der Befreiung Sowjet-Lettlands und Rigas von den deutsch-faschistischen Invasoren“: fünf vertikale Betonstelen als Sinnbild der Kriegsjahre, goldene Sterne obenauf liegen im Dunkel, die Beleuchtung ist abgestellt, der breite Wasserspiegel wirft Lichter der Stadt zurück. Als Schattenrisse steht eine umflatterte Frauenstatue drei siegesjubelnden Soldaten auf der weiten Betonfläche gegenüber. Irgendwer hat zwei Überwachungskameras an den Stelen angebracht – wenigstens hängen sie auf gleicher Höhe.

In vielem ist dies der Endpunkt der Reise und in jeder Faser das Gegenteil zu Lettgallen: Den zentralen Zugang zum Denkmal säumt eine Ausstellung mit Kriegsfotografie: Bilder von ukrainischen Toten und Verwundeten. Sie sind auf Metallwände gezogen, von nachgemachten Einschüssen durchlöchert, scheinbar von Granaten aufgeboten, mit roter Farbe bespritzt: Pressebilder, Entsetzliches, Moralin und Kitsch auf engem Raum. Das Denkmal selbst ist bereits umzäunt: Am nächsten Tag werden Polizeisperren aufgebaut, der 9. Mai ist seit knapp zwanzig Jahren Aufmarschtag und Propagandaveranstaltung von Organisationen, die von russischem Geld leben. Als Maria sich verabschiedete, hatte sie gesagt, dass sie den Park mag. Aber nie zum Monument gehe.

Eine gemeinsame Grenze und Geschichte

Mit dem Krieg wurde die lange schwärende Debatte zum Denkmal schrill. Eine Dichterin fühlte sich und das Land seit Jahrzehnten von den Stelen vergewaltigt, vergaß praktischerweise, dass sie zu Sowjetzeiten vorzüglich von Stipendien und Preisen lebte. Auch der Staatspräsident sieht im Monument „ein Symbol sowjetischer Besatzung“. Wenn Stelen, Figuren und Betonfläche nächstens geschleift werden, vereinfacht das die eigene Rückschau. Das Land wappnet sich aber auch gegen ein Risiko: In Sicherheitskreisen kann man seit Jahren von der Gefahr hören, dass am Gedenktag jemand aus der russischsprachigen Minderheit zu Schaden kommen könnte. Wladimir Putin warte nur auf so ein Ereignis, um einzugreifen.

Auch auf dieser Seite der Düna zeigt sich, dass in Kriegszeiten abwägende, zögerliche Haltungen zuerst in Schwierigkeiten geraten. Die große Geste, die einfache Lösung bekommen ihren Auftritt. Unweigerlich, hat Kaprāns erzählt, werde die Geschichte angerufen, für Analogien und Belege, um zu stützen, was man schon immer gesagt, womit man immer recht hatte. Und, er lacht: „Wir sind hier nun mal nicht in Dänemark, wir haben eine Grenze zu Russland, viel gemeinsame Geschichte, die starke Minderheit.“ Der Abriss des Denkmals sei deutlich einfacher, symbolisch klarer, als zum Beispiel kluge Sozialpolitik.

Der russische Vernichtungsfeldzug setzt in Lettland eine zentrale Fähigkeit unter Druck: Konvivialität, die heitere Kunst des Zusammenlebens, hat Kaprāns das genannt. Denn wurde Lettland befreit, gesellte sich freiwillig und mit dem entschlossenen Ausdruck der Frauenstatue zur Sowjetunion? Oder wurde das Land besetzt und zum realsozialistischen Glück gezwungen? In die Stille, die sich über den Park legt, hallt Mārtiņš Kaprāns’ feines Lächeln nach. „Putin“, hat er gesagt, „hilft bei all dem kein Stück.“

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