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A–Z | Weihnachtslieder


Link [2022-01-22 19:40:11]



Musik hilft im trüben Dezember. Es muss ja nicht gleich Campinos Version von Band Aid sein. So mancher Klassiker verleiht dieser Zeit etwas Feierliches, von Bach über die Pogues bis zu „O Tannenbaum“ – mal mit, mal ohne Gott A

Atheistisch Tausend Sterne sind ein Dom: So beginnt das gleichnamige Weihnachtslied von Siegfried Köhler. Und fährt fort: „In stille weltenweite Nacht / Ein Licht blüht auf im Kerzenschein / Das uns umfängt und glücklich macht.“ Er schrieb es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, auch unter dem Eindruck seiner Gefangenschaft im sowjetischen NKWD-Speziallager. Es wurde in der DDR ein populäres atheistisches Weihnachtslied und ist im Osten bis heute verbreitet. Es geht um eine besinnliche Zeit der Ruhe und in Einklang mit der Welt ohne christliche Bezüge (➝ O Tannenbaum). In dieselbe Kerbe schlägt der Song für Nicht-Gläubige White Wine in the Sun von Tim Minchin: „I really like Christmas. It’s sentimental, I know, but I just really like it.“ Deutlich weniger mit dem Geist der Jahresendzeit hat Erdmöbels Weihnachten ist mir doch egal zu tun. Punks und Skins mit einer Platte unter der Tanne versöhnen wollten die Vandals. Ihre Botschaft lautet: „Oi to the World!“ Tobias Prüwer

B

Bach Alle Jahre wieder, unter Corona mit Abstand: Vielerorts erklingt zur Adventszeit das berühmte Weihnachtsoratorium (BWV 248), das Johann Sebastian Bach erstmals 1734/35 mit dem Thomanerchor in Leipzig aufführte. „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage“ – in feierlicher Freudigkeit wollte er die neutestamentliche Weihnachtsgeschichte (➝ Transeamus usque Bethlehem) lebendig werden lassen. Das gigantische Werk mit zweieinhalb Stunden Spieldauer lässt fast in den Hintergrund treten, was Bach sonst noch an Weihnachtsmusik hinterließ. Auch das berühmte Ave Maria, das Charles Gounod 1852 komponierte und 1859 mit Text unterlegte, geht ja auf ihn zurück, genauer auf das Präludium Nr. 1 aus dem Wohltemperierten Klavier. Wie gut passt es zu Weihnachten, diesem Fest der Geburt, die, so schmerzhaft sie ist, Hoffnung in die Welt bringt. Irmtraud Gutschke

D

Dysfunktional So ähnlich dysfunktional wie bei Loriots Hoppenstedts wurden die Weihnachten bei uns oft. Es waren, mit altersmilder Melancholie betrachtet, übliche epische Kleindramen, die sich abspielten – und kein Wunder, dass ich später Jonathan Franzens „Die Korrekturen“ so verschlang, das „familienfeindlichste“ und gleichzeitig „liebevollste“ Buch zum Subgenre Familienroman, wie ein Literaturkritiker 2002 trefflich schrieb.

Kaum angekommen, bildeten sich diverse Allianzen unter den vier Geschwistern, eine Schwester traf man immer in der Küche an, wo das Radio lief und der sonst verhasste Sender SWR 3 (damals ein Grund, von der Provinz in die Stadt zu flüchten!) seine ➝ Rotation abspulte und Songs spielte, die ausnahmsweise jeder von uns irgendwie gut fand, so wie sich über Loriot die ganze Familie inklusive Vater und Mutter amüsieren konnte. Blick aus dem Fenster: Das Dorf bewegte sich nicht, wir hörten vielleicht Chris Reas Driving Home for Christmas aus dem Jahr 1986. Zum ersten Mal sehe ich heute ein Video zum Song. Eine endlose Autofahrt, Scheibenwischer, Schnee, zu Hause. Genau so schön war es. Katharina Schmitz

H

Heidnisch Gegen die christliche Konsumfixierung könnten Neujahrslieder die heidnischen Ursprünge von Sonnwende und (revolutionärem) Neuanfang besingen. Doch im kapitalistischen Realismus bleibt nur die depressive Kehrseite der Zwangsfreude. So bei U2 (➝ Promis): „Nothing changes on New Year’s Day“ (1983), doch blieb die postkommunistische Hoffnung auf die polnische Solidarność. Gleicher Anfang bei Death Cab for Cutie: „So this is the new year, and I don’t feel any different“ (2003), wobei die politische Desillusion nur zu Träumereien führt. Mein liebstes Neujahrslied singt Jena Malone: New year come, new year go (ca. 2010), die in ihrer Melancholie stoische Stärke gewinnt. Tom Wohlfarth

I

Ironisch Santa Baby von den Songwritern Philip Springer und Joan Javits ist seit Erscheinen 1953 eines der meistverkauften Weihnachtslieder. Broadway-Star Eartha Kitt ging damals im konsumorientierten, prüden Amerika das Risiko ein, mit Lolitastimme eine musikalische Wunschliste mit Luxusgeschenken an „Santa Sugar Daddy“ zu schicken. Der Merry Xmas Song von Pink Floyd, der im Rahmen einer Spaßperformance für die BBCentstand, karikiert Weihnachten als leeres Ritual. Expliziter ist dann Frohes Fest der Fantastischen Vier (1991): ein Song über die dunkle Seite von Weihnachten: Einsamkeit, Drogen, Armut (➝ New York). Helena Neumann

N

New York Leise rieselt der Schnee am Anfang von Fairytale of New York, dem schönsten Weihnachtslied der Welt. Aber dann führt die Kamera auf eine New Yorker Polizeistation, wo die Betrunkenen in der Ausnüchterungszelle sitzen. Es ist der 24. Dezember, singt Shane MacGowan: „It was Christmas Eve babe / In the drunk tank / An old man said to me / won’t see another one.“ The Pogues & Kirsty MacColl haben den Song im Dezember 1987 als Single veröffentlicht, ein als Dialog gesungenes Stück über den Traum eines irischen Immigranten in New York, über ein Paar, das seine große Liebe im Alkohol ertränkt hat. Das Musikvideo mit Matt Dillon als Polizisten ist großartig, bei dem eine Band des NYPD ihren Auftritt hat. In Irland kletterte der Song bis auf Platz 1, in England konnte er Always On My Mind von den Pet Shop Boys aber nicht vom Thron stoßen. Jetzt ist es an der Zeit, ihn wieder mal zu hören. Marc Peschke

O

O Tannenbaum Wie oft habe ich mich im Text verheddert, weil ich auf die Geschenke sah. Aber ehe es ans Auspacken ging, musste gemeinsam gesungen werden. Vorher stellten wir uns der Größe nach an und warteten vor geschlossener Tür auf den Glockenton.Wir traten ein, bestaunten den Lichterbaum, und die Mutter stimmte dieses Lied an. Dann gab es Geschenke, später wurde zu Abend gegessen. Jedes Jahr das Gleiche. „Die Hoffnung und Beständigkeit“ gefiel der Mutter, und der Vater hätte nichts Religiöses gewollt (➝ Atheistisch). Heute, da die Eltern nur noch in Gedanken mit mir sind, verstehe ich, was ihnen das Ritual bedeutete: Zusammenhalt in Liebe. Die Volksweise aus dem 16. Jahrhundert war auch später noch weitverbreitet. Zur einfachen Melodie hat es mitunter ironische Texte gegeben. Dabei ist der Weihnachtsbaum einem ➝ heidnischen Brauch entlehnt. Für die Germanen waren immergrüne Zweige zur Wintersonnenwende Symbol für Fruchtbarkeit und Lebenskraft. Irmtraud Gutschke

P

Promis Campino musste 2014 viel Kritik einstecken, als er mit Promis eine deutsche Version von Band Aid 30 realisierte. Der Frontmann der Toten Hosen trommelte sie auf Bitte von Bob Geldof zusammen, um Do They Know it’s Christmas? in deutscher Übersetzung zu trällern. Ziel der Wohltätigkeitsaktion war das Einwerben von Spenden für den Kampf gegen Ebola. Nun war das Original schon grottig, die neue Version erst recht. Es hagelte Häme. Die inhaltliche Kritik entzündete sich am transportierten Afrika-Bild: Weiße beruhigten auf paternalistische Art ihr Gewissen. Mit nachhaltiger Hilfe habe das nichts zu tun. Vielleicht war der Initiator schlecht gewählt. Die Toten Hosen nervten schon seit Jahren mit angepunkten Xmas-Rocknummern. Tobias Prüwer

R

Rotation Ein Samstag Mitte November im Supermarkt um die Ecke. Den Kassierer, einen bis zu diesem Zeitpunkt gechillt wirkenden Mittdreißiger, packt beim Anblick meiner Clementinen das kalte Grauen. Entsetzter Blick zum Kollegen an der Kasse nebenan: „Morgen kommt die Weihnachtsrotation.“ „Oar, nee. Das dudelt hier wieder bis Mitte Februar.“ Mein Beileid ist ihnen sicher. Gestern Abend dann zu Recherchezwecken noch mal hin. Ich hoffe auf „Let it Snow“, befürchte „Rudolph the Red-Nosed Reindeer“ und stelle mich innerlich auf den GAU ein: eines von beidem in der Version von Helene Fischer. Stattdessen: Energy-Drink-Werbung und eine Soul-Pop-Schnulze ohne jahreszeitlichen Bezug. Selbst im Lebensmitteleinzelhandel war früher mehr Lametta. Anne Bopser

S

Shakin’ Stevens Auch wenn Weihnachtsfeste wahrhaftig nicht der Kern sozialer Friedsamkeit sind, haftet ihnen ein Zauber schneeberieselten Friedens an (➝ Dysfunktional). Manchmal greift die Reisevorfreude so sehr, dass man sich wünscht, den Weg der imaginierten Familienfreude prolongieren zu können. Stattdessen muss man feiern gehen. Wenn Sie sich auf Youtube das Video von Shakin’ Stevens Merry Christmas Everyone anschauen, verstehen Sie, was ich meine: dieses leise Versprechen nach tiefem Schnee, einsamem Dorf und Harmonie. Und wenn Ihnen der Clip zu kurz ist: Kennen Sie Chris Nighy alias Billy Mack aus dem Film Tatsächlich Liebe? Frohe Weihnachten! Jan C. Behmann

T

Transeamus usque Bethlehem Lasst uns nach Bethlehem gehen ist ein Kirchenchorwerk eines unbekannten Komponisten aus Schlesien, das mich als Kind immer bewegt hat. Ich erinnere mich noch an die Christmetten meiner Leipziger Kindheit in der DDR (➝ Atheistisch), in der damaligen Universitätskirche. Das Transeamus war meist die Schlussmusik und begleitete die Kirchgänger bis auf die Straße. Das Lied erzählt die biblische Weihnachtsgeschichte im Evangelium nach Lukas. Die Pastorella ist aus dem Breslauer Dom überliefert, der letzte deutsche Domkapellmeister Paul Blaschke konnte das Material aus dem belagerten Breslau nach Westdeutschland retten.

Heute höre ich gern eine bestimmte Fassung vom Grootkoor aus den Niederlanden. Eine merkwürdige Stimmung tut sich da auf. Die Chormitglieder strahlen eine wohlerzogene Bürgerlichkeit aus, aber ihr Singen in lateinischer Sprache, das „Gloria“ der Engel hört sich an wie aus dem Jenseits. Magda Geisler

Z

Zusammen Es war wohl das ungewöhnlichste Duo der Musik: der konservative Schnulzensänger aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, Bing Crosby, und der androgyne Dude des Rock, David Bowie. Doch ihr Duett Peace on Earth / The Little Drummer Boy ist bis heute als klassisches Weihnachtslied beliebt und fester Bestandteil britischer sowie US-Radiosender in der Weihnachtszeit. Die beiden Musiker nahmen das Lied im September 1977 für Crosbys Weihnachtsspecial A Merrie Olde auf. Bowie soll den Song gehasst haben, also bauten die Produzenten „Peace on Earth“ in das Duett ein. Nach den Showaufnahmen – Crosby starb einen Monat später – lobte er Bowie als „sauberen Jungen mit toller Stimme und eine echte Bereicherung für die Show.“ 1977 spielte Bowie auch Heroes ein. Einige Jahre lang waren beide Songs als Bootleg-Single erhältlich. Helena Neumann

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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