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Autofiktion | Das Kind in mir will eine Heimat


Link [2022-05-21 23:13:39]



Andrea Roedigs Roman „Man kann Müttern nicht trauen“ ist das einfühlsame Porträt einer Kindheit und zugleich ein „Familienfoto“ der alten BRD

Eigentlich, gesteht die Autorin ganz am Ende ihres Buches, habe sie mit ihrer Mutter ein Interview führen wollen, „weil man ja aus allem eine Geschichte macht“. Jedenfalls, wenn man wie die in Wien lebende Andrea Roedig als Journalistin arbeitet und als Mitherausgeberin der Zeitschrift Wespennest viel mit Literatur zu tun hat. Das Interview hat zwar nie stattgefunden, doch was Roedig dem Schicksal ihrer Mutter (und Großmutter) abringt, ist viel mehr als eine (auto)biografische Inspektion. Unter dem provozierenden Titel Man kann Müttern nicht trauen arbeitet sich die Autorin ab an der schönen, fremden Mutter Lilo, die sich zu Höherem berufen sah, an sich und den Zeitläuften scheiterte und ihren beiden Kindern ein ambivalentes Erbe hinterließ.

1938 geboren, ein Kriegskind, das von der groben, derben Mutter Gertrud alleine aufgezogen wurde, hat Lilo früh gelernt, was Abhängigkeit von einer einzigen Person bedeutet. „Lilo durfte nichts und konnte nichts“ und wurde mittels Prügeln kleingehalten. Statt Schauspielerin wird sie Modefachverkäuferin und entflieht ihrer ärmlichen Herkunft, indem sie in eine florierende Düsseldorfer Metzgerei einheiratet, wo sie zumindest die Chefin spielen kann. Man hat Geld, fährt Porsche und dokumentiert mit der ersten Super 8 die Stationen der Kinder, der 1962 geborenen Andrea und des drei Jahre jüngeren Christoph.

Mendelssohnstraßenzeit

Doch „Lilo hatte Kinder, wie Schauspielerinnen oder Königinnen Kinder haben“. Es ist eine Welt ohne Mutterschutz, geprägt von den kleinen sadistischen Neigungen der Eltern, den „Liebesprüfungen“ der Mutter, den Übergriffen des Vaters und den Einmischungen der Großeltern väterlicherseits und Gertruds. Die Ehe der Eltern gerät in eine Krise und schließlich auch das Geschäft. 1974 ist der Bankrott nicht mehr aufzuhalten, die Familie zerfällt, die Kinder werden nun täglich zum „Büdchen“ nach Doornkaat geschickt. Schließlich droht die völlig mittellose und zudem tablettenabhängige Mutter mit den Kindern obdachlos zu werden und auch der alkoholkranke Vater kümmert sich nicht. Andrea und Christoph landen im Haushalt der Großeltern, wo „zähe Bitternis“ herrscht. Lilo verschwindet für drei Jahre völlig von der Bildfläche.

Diese Kindheitsphase rekonstruiert Roedig mithilfe eines erhaltenen Mädchentagebuches der Mutter, eigenen Aufzeichnungen und Briefen und offenbar auch mittels eines ungewöhnlich guten Gedächtnisses. Die heraufbeschworenen Erinnerungen und die zum Teil dramatischen Szenen – gerade aus der „Mendelssohnstraßenzeit“, als die Kinder sich selbst überlassen sind, Geld organisieren und gleichzeitig das heimische Chaos geheim halten müssen – sind von zwingender Intensität. „Red dich heraus, halt dicht, erzähl niemandem, wie es zu Hause aussieht“, wird ihnen eingebläut. Dabei ist das, was die Kinder erleben, nicht einzig im aufstrebenden Wirtschaftswunderland, das von kriegstraumatisierten und schuldbeladenen Menschen bewohnt wird und in dem Gewalt und Missbrauch zur Tagesordnung gehören.

Andrea Roedig überlebt das Auseinanderbrechen der Familie in einem Internat der Ursulinerinnen, ihr einziger Besuchsanker bleibt Oma Gertrud, obwohl auch in diesem Verhältnis zunehmend „Ekel, Wut und Verachtung“ vorherrschen. Die Jugendliche flüchtet sich in die Religiosität und zunehmend ins Schreiben, „der Text ist ein Netz, das hält mich über dem Abgrund“. Die „kleine Kavalierin“, wie sie von Lilo genannt wird, entspricht in nichts den mütterlichen Vorstellungen, sie fühlt sich zu Frauen hingezogen, in denen sie die nie greifbare Mutter sucht. „Ich möchte einzig sein für einen Menschen“, vertraut sie ihre Seelennot dem Tagebuch an.

Als Lilo 1978 wieder auftaucht, in den darauffolgenden Jahrzehnten mit mehreren Männern im Schlepptau, ist es zu spät für einen Neuanfang, Entfremdung und Enttäuschung sind einfach zu groß. Und vielleicht liegt es auch am Unerreichbaren der Mutter, die Körperbilder von Lilo spielen in Roedigs Erzählung eine wichtige Rolle.

Die Wut auf die Mutter, die Roedig selbst nach deren Tod noch empfindet, wird jedoch auch überlagert von ihrem Wunsch, in der schönen Lilo mehr zu sehen, als sie war: „Vielleicht überschätze ich sie, wenn ich mir erträume, sie sei doch etwas Besonderes gewesen, zu groß für diese enge Welt, eine Verbannte.“

„Fühle ich mich oder sie?“

„Warum erzähle ich, was sie verbergen wollte“, fragt sich die Autorin am Ende, denn ihr in vieler Hinsicht intimer Bericht ist dort, wo zu wenig gewusst wird, auf Mutmaßungen angewiesen oder auf Interpretationen etwa von Fotografien. Roedig ist sich des Wagnisses, dieser Gratwanderung zwischen Verbürgtem, emotional imprägnierter Erinnerung und Spekulation wohl bewusst. „Es fällt mir schwer, mich in sie [Lilo] hineinzuversetzen“, schreibt sie an einer Stelle, „gerade jetzt, wo ich in der Erzählung auftauche. Das ‚Ich’ stört. Fühle ich mich oder sie?“

Die Autorin löst dies einerseits durch Selbstbefragungen, zum anderen, indem sie sich als erwachsene Person stark zurücknimmt. Nur wenig scheint auf von ihrem beruflichen Werdegang und ihren Lebensumständen, die eine Zeit lang auch die Freitag-Redaktion gekreuzt haben. An ganz wenigen Stellen wirkt die Rechenschaftslegung theoretisch etwas überfrachtet, etwa wenn von „Schuldabwehr“ und Ähnlichem die Rede ist. Auch die genau dokumentierte „Familienaufstellung“, der sich Roedig in Wien unterzieht, stört den Ton der übrigen Geschichte. Diesen in der Schwebe zu halten zwischen immer noch empfundenem Schmerz und mutiger, risikoreicher Selbstaufklärung und darüber hinaus ein sprechendes „Familienfoto“ der alten Bundesrepublik zu zeichnen bei hohem sprachlichen Anspruch, ist eine Leistung, die bei autobiografischen Tiefenschürfungen dieser Art nicht so oft anzutreffen ist.

Info

Man kann Müttern nicht trauen Andrea Roedig dtv 2022, 240 S., 20 €

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