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Ausstellung | Zeitgenössische Medienkunst: Es lebt nicht, aber es vibriert


Link [2022-06-11 14:42:41]



Vor 15 Jahren eröffnete Julia Stoschek in Düsseldorf eine der weltgrößten Privatsammlungen für „zeitbasierte Kunst“. Aber was bedeutet das eigentlich?

Spricht man von zeitbasierter Kunst, müsste man vielleicht zunächst fragen, ob es überhaupt ein Erleben gibt, das nicht an das Vergehen von Zeit gekoppelt ist. Natürlich nicht. Auch der Begriff „Medienkunst“ ist eher unspezifisch, gibt es doch ohne medialen Träger keine Kunst, zeitbasiert oder nicht, egal, ob es sich um eine bemalte Leinwand handelt, einen Filmstreifen oder eine Festplatte. Und Bewegtbildmedien gibt es spätestens seit der filmischen Avantgarde der 1920er-Jahre. Wie also lassen sich einzelne Werke dieser Sparte überhaupt auf einen Nenner bringen?

In einem kolossalen Gebäude, einer einstigen Bühnenbildwerkstatt im edlen Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel, hat die Julia Stoschek Collection vor 15 Jahren ihre erste Ausstellung mit dem Titel Destroy, She Said eröffnet – benannt nach einer Videoinstallation von Monica Bonvicini aus dem Jahr 1998, die Autorenfilme aus feministischer Perspektive auf Stereotype weiblicher Rollen abklopft. Aus der improvisierten Anfangsphase des Hauses ist inzwischen mit rund 870 Werken eine der renommiertesten und weltgrößten Privatsammlungen für „zeitbasierte Kunst“ geworden. Deren historische Zeitrechnung beginnt für Julia Stoschek in den frühen 1960er-Jahren mit den ersten tragbaren Kameras, mit dem Befreiungsschlag technologischer Unabhängigkeit und damit auch weiblicher Selbstrepräsentation und mit frühen Videoarbeiten von Nam June Paik, Bruce Nauman oder Vito Acconci.

Kurz vor den Toiletten

Stoschek wurde 1975 in Coburg geboren und ist als Urenkelin des Firmengründers Mitgesellschafterin der Brose-Gruppe, einer Firma für Fahrzeugteile, deren Gesamtumsatz 2020 bei 5,1 Milliarden Euro lag. MTV, erzählt sie, war als Jugendliche ihr Fenster zur Welt: „Irgendwann habe ich dann festgestellt, dass es auch im Kunstbereich das Bewegtbild gibt. Als ich mit dem Sammeln begonnen habe, Anfang der 2000er-Jahre, fand man die Werke sehr oft schlecht und nachlässig installiert in der hinterletzten Ecke des Museums auf den letzten Metern zu den Toiletten.“ Im Hintergrund rauscht zu unserem Gespräch im ersten Stock des burgartigen Gemäuers der Soundtrack von Wallfuckin’, einer Einkanal-Videoinstallation von Bonvicini, eines der wenigen Originale in Stoscheks Sammlung. Auch wenn dieser Begriff bei Kunstwerken, die durch ihre Reproduzierbarkeit gekennzeichnet sind, auch schon wieder zu hinterfragen wäre. 15 Jahre, das sei eigentlich kein rundes Datum, betont Stoschek, aber mit der Pandemie ist eben auch ihre Stiftung in ein Zeitloch gefallen, aus dem es nun wieder herauszukriechen gilt.

Die Jubiläumsausstellung Worldbuilding – Videospiele und Kunst im digitalen Zeitalter arbeitet sich ganz im Sinne der Sammlungsprogrammatik weiter an der Entgrenzung der Formate ab: Künstliche Welten und Computerspiele stünden längst nicht mehr nur im Dienst kommerzieller Unterhaltung, sagt Kurator Hans Ulrich Obrist, sondern sie kritisierten diese künstlerisch. Webdesigner oder Medienkünstler – wo liegt da noch der Unterschied? Reflexionsräume und philosophische Fragestellungen treten an die Stelle eskapistischer Traumwelten. Zur Eröffnung ist die 3D-Pionierin Rebecca Allen aus Los Angeles angereist und erklärt ihre von autonomen Charakteren bewohnte Simulation The Bush Soul #3 von 1999, in der die geothermische Energie einer orange leuchtenden Lavaschlucht über einen Joystick, der werkgetreu aus der digitalen Steinzeit stammt, den ganzen Körper der Spielenden durchrüttelt. Die Künstlerinnen des Londoner Kollektivs Keiken wiederum führen neben ihrer interaktiven Installation Player of Cosmic Realms (2022) ein wabbeliges Etwas vor: eine türkis strahlende Silikon-Gebärmutter, die sich Besucher*innen auf den Bauch legen. Es lebt nicht, aber es vibriert meditativ und sendet via Kopfhörer beruhigende Klänge aus. Statt die physische Präsenz zu annullieren, während der Geist in künstliche Welten abtaucht, werden hier digitale und reale Welt über das taktile Empfinden wie durch eine Nabelschnur auf intime Art miteinander verbunden.

Medienkünstler*innen, erklärt Stoschek, griffen wie sonst kaum jemand aktuelle Themen auf und nähmen gesellschaftliche Entwicklungen vorweg. So etwa der US-Amerikaner Arthur Jafa, 2019 auf der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet und Mitglied im Beirat der Sammlung: In dessen verstörendem Video Apex (2013) fasst der durch Misshandlung deformierte Rücken eines ehemaligen Sklaven, assoziativ montiert zwischen Bilder von Mickey Mouse bis Michael Jackson, die komplexe Schwarze Erfahrung seines Landes zusammen. In seinen Anfängen schnitt Jafa, der 1960 zur Welt kam, noch Bilder aus Zeitungen aus und klebte sie in Notizbücher. Dann kamen Adobe und Google, aus den Büchern wurden Clips und aus Sammelalben auf Papier wurde Medienkunst in ihrer denkbar politischsten Form.

2016 hat Stoschek ein zweites Haus in Berlin eröffnet, vor allem, sagt sie, weil viele der Künstler*innen, mit denen sie zusammenarbeitet, hier leben, und weil Kontakt und ständiger Austausch für sie wichtig sind. Der Düsseldorfer Standort bietet seit drei Jahren ein Residenzprogramm für Kurator*innen, legt einen Schwerpunkt auf Kunstvermittlung, besitzt eine öffentliche, 4.000 Bände umfassende Bibliothek und eine Datenbank mit allen Kunstwerken des Bestandes. Viele davon sind auch online per Streaming verfügbar.

Info

Worldbuilding – Videospiele und Kunst im digitalen Zeitalter. 15 Jahre Julia Stoschek Collection JSC Düsseldorf, bis 10. Dezember 2023

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