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Armut | Ein bisschen Würde: Aussetzung der Hartz-IV-Sanktionen reicht nicht


Link [2022-05-25 08:39:04]



Die Bundesregierung setzt die Hartz-IV-Sanktionen zu einem Großteil für ein Jahr aus. Dass das auf Dauer nicht ausreicht, zeigt die Aktion #IchBinArmutsbetroffen

Wer in einem ungerechten System versucht, gerecht zu handeln, wird irgendwann krank. So zumindest ist es Inge Hannemann ergangen, die eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte – und nichts mehr empfand. Sie war ausgebrannt. Jahrelang hatte sie sich als Fallmanagerin in einem Jobcenter aufgerieben, bei ihrer Arbeit auf Druck und Strafe verzichtet und auf Dialog und Verständnis gesetzt. Ihre Vermittlungsquote war überdurchschnittlich. Unterdurchschnittlich hingegen fiel die Quote der Sanktionen aus, die sie gegen ihre sogenannten Kunden aussprach. Das fanden die Vorgesetzten nicht gut, da Hannemann die übliche Sanktionsquote nicht erfüllte. Ihre Anstellung war sie bald los.

Dass die Bundesregierung nun für die Dauer eines Jahres ein teilweises Sanktionsmoratorium beschlossen hat – im Fall von Meldeversäumnissen dürfen weiterhin zehn Prozent der Leistungen gekürzt werden –, müsste Hannemann also eigentlich freuen. Bei Twitter wies sie allerdings darauf hin, dass im Koalitionsvertrag zwar stehe, dass das Arbeitslosengeld II umbenannt werde. Zur Abschaffung der Sanktionen sei dort jedoch nichts zu finden: „Das neue Bürgergeld hat dann wieder in einem Jahr die 30-Prozent-Sanktionen inklusive.“

Dabei musste die Justiz die Bevölkerung schon im November 2019 vor dem Klassismus der Politik schützen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die damals bereits seit gut 15 Jahren geltenden Sanktionsregeln für verfassungswidrig. Wenn Betroffene die Befehle der Jobcenter nicht einhielten, konnten Sachbearbeiter die Auszahlung der Leistungen schrittweise auf null setzen. Obwohl das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz festlegt, dass einem Menschen das Existenzminimum ohne Wenn und Aber zusteht. Dass die Karlsruher Richter im Urteil dennoch Kürzungen von 30 Prozent erlaubten, erklärt sich vor allem mit der dem Kapitalismus immanenten ideologischen Schlagseite der Juristerei zugunsten des Kapitals.

#IchBinArmutsbetroffen: Aufstand der Armen

In medialen Debatten zu Sanktionen geht es leider kaum um das Interesse ebendieses Kapitals an einem Heer von Armen, das die Erwerbstätigen disziplinieren soll. Meist stehen Vorurteile gegenüber finanziell Schwachen im Mittelpunkt – ungeachtet der Tatsache, dass viele Hartz-IV-Empfänger nur darum Sozialleistungen erhalten, weil ihr Arbeitslohn nicht zum Leben reicht. Das liegt vor allem daran, dass die Politik dies über Jahre hinweg systematisch befördert hat. Im Sommer 2005 veröffentlichte das SPD-geführte Bundesarbeitsministerium das Papier „Vorrang für die Anständigen“. Darin hieß es: „Biologen verwenden für ‚Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben‘, übereinstimmend die Bezeichnung ‚Parasiten‘.“

Diesen Ursprung sollte kennen, wer die laut zu vernehmende Kritik am Moratorium verstehen will. Die Süddeutsche Zeitung zitierte kürzlich anonymes Jobcenter-Personal, das die Aussetzung der Sanktionen als „Katastrophe“ betrachte: Bald würden „uns die Hartz-IV-Empfänger auf dem Kopf herumtanzen“, heißt es da. Menschen im Sozialleistungsbezug wird unterstellt, sie seien von Natur aus faul und betrügerisch.

Wie falsch diese Vorwürfe sind, demonstriert ein aktueller Twitter-Trend. Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen formiert sich ein kleiner Aufstand gegen die herrschende Politik, die lieber die Armen bekämpft, statt durch gezielte Maßnahmen die Armut abzuschaffen. Menschen mit finanziellen Sorgen schildern, wie sie unverschuldet wegen Krankheit, Trennung oder Jobverlust in die Armut gestoßen wurden, wie schwer ihnen das Leben gemacht wird – und wie skandalös es ist, dass sich eins der reichsten Länder der Erde weigert, Millionen von Armen ein zumindest ökonomisch existenzsicherndes Leben zu ermöglichen.

Was es braucht, ist ein Bewusstseinswandel. Bereits in ihrem Buch Die Hartz-IV-Diktatur zitierte Inge Hannemann einen ehemaligen Kollegen. Rund 40 Prozent aller Klagen gegen Sanktionen enden demnach erfolgreich. Aber nur fünf Prozent der Betroffenen kennen ihre Rechte überhaupt. „Wären es doppelt so viele“, so der Insider laut Hannemann, „könnten wir einpacken.“ Vielleicht wäre genau das ein nicht nur legaler, sondern auch bewusstseinsverändernder Weg, die Sanktionspraxis dauerhaft zu kippen.

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