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Arbeit | Ausbeutung im Niedriglohnsektor: Kaputtmacher


Link [2022-05-21 23:13:39]



Peter Birkes Studie „Grenzen aus Glas“ tritt buchstäblich hinter die Werkstore. Er rekonstruiert die Arbeitspraktiken in der Fleischindustrie und im Versandhandel

Der Krieg hält nicht die Arbeit an. Vor allem nicht jene, die in systemrelevanten Branchen verrichtet wird, etwa in der Ernährungsindustrie. Wie das Politikmagazin Panorama recherchierte, tätigte der Schlachtbetrieb Tönnies an einem polnischen Grenzort Anwerbeversuche. Geflüchteten wurden vor Ort Angebote unterbreitet, die auch Transport und Unterkunft in Deutschland beinhalteten. Nachdem der Konzern diese Praxis anfangs noch gerechtfertigt hatte, wurde das, „sorry“, vielleicht zu „voreilige“ Angebot eingestellt. Aber nicht ohne in derselben Pressemitteilung die Anwerbung zur quasi karitativen Hilfeleistung zu stilisieren.

Gegenüber solcher Rhetorik ist Vorsicht geboten. Mehr noch, Peter Birkes Studie Grenzen aus Glas legt nahe: Die deutsche Fleischindustrie basiert auf der systematischen Ausbeutung von Migrant:innen. Hinter der Verheißung „Arbeitskräfte willkommen!“, die bei jeder Flüchtlingskrise intoniert wird, fehlt meist die Aussicht auf würdevolle, geschweige denn erfüllende Arbeit. Die über 200 Interviews, die Birke für eine Studie des Göttinger Forschungsinstituts SOFI von 2017 bis 2021 (mit-)geführt hat, zeichnen ein düsteres Bild. Zwar dürfte die Diagnose auf breite Zustimmung stoßen, dass die deutsche Arbeitswelt zusehends polarisiert ist, sich also seit den Hartz-Reformen ein mächtiger Niedriglohnsektor herausgebildet hat. Das große Verdienst von Grenzen aus Glas besteht indes darin, nicht bei abstrakten Arbeitsmarktanalysen stehenzubleiben, sondern buchstäblich hinter die Werkstore zu treten. Birke rekonstruiert die Arbeitspraktiken in zwei Branchen, die seit der Corona-Pandemie als systemkritisch gelten: die Fleischindustrie auf der einen Seite und der Versandhändler Amazon auf der anderen.

„Kommst Du aus dem Gefängnis, gehst Du zu Amazon.“

Die dortigen Arbeitsverhältnisse lassen sich am ehesten mit der lakonischen Sentenz eines Beschäftigten zusammenfassen: „Kommst Du aus dem Gefängnis, gehst Du zu Amazon.“ Denn wie eine tagtägliche Ausbeutung von Arbeitskraft und Lebenszeit wird die Arbeit erfahren. Birke reiht sich ein in die marxistische, heute wieder stärker gepflegte Tradition, die Lohnarbeit als ein Macht- und Herrschaftsverhältnis beschreibt. Bei Amazon ist das ein ausgetüfteltes System, bei dem Arbeitskräfte hin- und herlaufen, um Waren aus Regalen herauszuholen („Picker“) oder unterzubringen („Stower“). Es sind nicht die physischen Anstrengungen allein, die zu schaffen machen – in 8-Stunden-Schichten werden bis zu 40 Kilometer zurückgelegt –, sondern vor allem der ständige Leistungsdruck. Zur Ruhe kommt man bei Amazon nicht. Vor allem die nicht, die nicht Deutsche sind oder nicht so wirken. Diversität mag bei Jeff Bezos’ Konzern gepredigt werden, gelebt wird sie dort (noch) nicht. „Ich kenne einen Jungen, der einen Doktortitel von einer deutschen Universität hat. Er hat als normaler Arbeiter angefangen und wollte Lead werden, aber es hieß, du sprichst nicht so gut Deutsch. Ich glaube, der Junge kommt aus dem Kamerun“, so einer der zahlreichen Berichte.

Derart subtil ist die Fleischindustrie nicht. Der Zusammenhang von prekärer Beschäftigung, migrantischen Belegschaften und, ja, strukturellem Rassismus äußert sich dort „idealtypisch“. Die Ausbeutung beginnt nicht erst im Werk, sie setzt mit der Anwerbung an. Über ein Netz von Vermittlern – an die ein Teil des Lohnes als „Gebühren“ abfließt – werden vor allem in osteuropäischen EU-Ländern Arbeitskräfte rekrutiert. Diese werden in überfüllten und sanierungsbedürftigen Unterkünften untergebracht. Birkes detaillierte Schilderungen des Alltags im Schlachthof führen in einen Manchester-Kapitalismus à la Dickens zurück. Schlachtung, Zerlegung oder Verpackung von Tieren sind per se anstrengende Tätigkeiten. Unter dem ständigen Druck zur Leistungssteigerung und ob flexibler, überdehnter Schichten, die oft zehn Stunden und Sechstagewochen beinhalten, wird dies alles meist nur wenige Jahre ausgehalten. „Dann ist die Person kaputt“, so ein Interviewter, der mit Anfang dreißig und nach vier Jahren in der Fleischindustrie dauerhaft krankgeschrieben wurde.

Schlauch in die Hand, leg los

Das Kaputtmachen ist wörtlich zu nehmen. Vor allem bei der Industriereinigung kommt es zu dramatischen Unfällen. „Einer, der ist an eine Maschine gekommen, wusste überhaupt nicht, wie die tickt, und hat das Bein verloren. Der Schlauch wird in die Hand gedrückt, leg los“, wird exemplarisch berichtet. Auf dieser „Nachtseite“ des Schlachthofs sind großteils Geflüchtete angestellt. Für sie ist eine dauerhafte Beschäftigung mit der Aussicht auf einen sicheren Aufenthaltsstatus verknüpft. Dies wird seitens des Managements schamlos ausgenutzt, nicht zuletzt durch illegale Vereinbarungen, bei denen im Tausch für einen Festvertrag ein Teil des Gehalts an den Arbeitgeber abgeführt wird.

Und doch sieht Birke die Arbeitenden nicht nur als Opfer. Er zeigt auf, wie sowohl kleine Widerstandspraktiken (etwa verlängerte Pausen, verzögerte Reparaturen) als auch große Protestaktionen selbst dort Handlungsmacht schaffen, wo keine zu vermuten wäre. Dass das Arbeitsministerium seit Anfang 2021 in Schlachtung und Zerlegung Werkverträge verboten hat oder dass Amazon in der Pandemie einen zumindest elementaren Gesundheitsschutz gewährleistete, erklärt sich nur durch den Druck von unten. Die oft „wilden“ Kämpfe der Beschäftigten, sie sind der normative Fluchtpunkt von Birkes Studie. Es wäre zu wünschen, dass der Autor diese Frage weiterverfolgt. Vor allem aber wäre zu wünschen, dass mehr Arbeiten seinem Beispiel folgen und das Innenleben des Niedriglohnsektors ins Visier nehmen. Denn dort ringen Menschen darum, ihre Würde aufrechtzuerhalten, während sie für uns alle Notwendiges leisten.

Info

Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland Peter Birke mandelbaum verlag 2022, 398 S., 27 €

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