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Afghanistan | Wo die Taliban Mädchen zur Schule gehen lassen


Link [2022-02-27 09:33:16]



Seit dem Machtwechsel im Vorjahr wurde der Unterricht für junge Frauen nicht überall eingeschränkt. Eine neue Generation kämpft um ihr Recht auf Bildung

Mitte August 2021 erreichen die Taliban Zabul, Heimatprovinz der Lehrerin Parveen Tokhi, und wollen ihre Schule vorübergehend als Unterkunft nutzen. Die langjährige Pädagogin hat Angst, ist sich aber ganz sicher, was sie tun muss. Tokhi hatte die düsteren Jahre der ersten Taliban-Herrschaft in den späten 1990er Jahren wie die meisten afghanischen Frauen zu Hause verbracht, ohne Zugang zu Bildung oder einer Arbeit. Sie will alles tun, damit der gleiche Schatten nicht auf eine weitere Generation fällt. Also sagt sie: „Einverstanden, Sie können über Nacht bleiben, aber diese Gebäude gehören zu einer Mädchenschule, und ich habe mich mein Leben lang für die Schulbildung dieser Mädchen eingesetzt.“ Unbeeindruckt von den Waffen der Männer besteht sie darauf, dass sie am nächsten Morgen rechtzeitig weiterziehen, sodass der Unterricht an der Bibi-Khala-Schule wie gewohnt beginnen kann.

Dann besorgt sie sich die Telefonnummer regionaler Taliban-Führer und ruft sie direkt an: Der Islam rechtfertige es nicht, sie als Pädagogin aus Klassenräumen zu verbannen, in denen sie den Großteil ihres Lebens verbracht habe, erst als Schülerin, dann vier Jahrzehnte als Lehrerin. „Ich sagte: ‚Ich werde diese Schule nicht schließen – selbst wenn mich dafür jemand tötet, denn die Mädchen kommen in der Burka zu einer Schule, in der ausschließlich Lehrerinnen unterrichten.‘“

Die Südprovinz Zabul ist so konservativ, dass es selbst unter der früheren Regierung nur drei Oberschulen für Mädchen gab, alle in der Provinzhauptstadt Qalat. In den ländlichen Gebieten endete Bildung für Mädchen mit der sechsten Klasse, wenn sie überhaupt zur Schule gingen. Insofern war das nicht der erste Ort, der einem einfiel, um zu testen, was Bildungspolitik unter den Taliban bedeutet. Zur Überraschung vieler, in Zabul und darüber hinaus, gingen die Taliban auf die Bedingungen von Parveen Tokhi ein. Es gab einige Kompromisse, und die weiterführende Schulbildung konnte fortgesetzt werden.

Unterwegs mit Hijab

Die Mädchen müssen jetzt auf dem Weg zur Schule und nach Hause einen Hijab tragen, worunter die neuen Führer eine Burka verstehen. Die Grundschulklassen für Jungen, die früher auf dem Gelände angesiedelt waren, wurden an einen anderen Ort verlegt. „Die Frauen kamen ins Amt für Bildung und verlangten, dass sie ihre Schulbildung fortführen können, und wir entschieden, es ihnen zu erlauben“, sagt Muhammad Usman Huriyat, der Bildungsbeauftragte von Zabul. Die Taliban wüssten, wie wichtig die Bildung von Mädchen sei, und wollten mehr Ärztinnen ausbilden. „Dafür sind wir alle verantwortlich. Wir kennen die Rechte ebenso wie die Bedürfnisse der Menschen.“

Die Schulen in Zabul blieben sogar geöffnet, nachdem die neue Taliban-Regierung in Kabul Ende September ein De-facto-Verbot für die weiterführende Schulbildung von Mädchen erließ und damit gegebene Versprechen ungerührt brach. So kann in den 34 Provinzen Afghanistans gegenwärtig nur gut ein Drittel der Mädchenschulen weiter unterrichten, von denen wiederum nicht alle an einer Oberstufe für Schülerinnen festhalten, sodass Millionen Mädchen des Rechts auf Bildung beraubt sind.

Kalifat Afghanistan

1996 – 2001 Nach Jahren der inneren Kämpfe mit diversen Warlords und deren Milizen erobern die Taliban am 27. September 1996 Kabul und beginnen, ein Kalifat zu errichten, ohne je das ganze Land zu kontrollieren. Die in pakistanischen Koranschulen entstandene Bewegung junger hochpatriotischer afghanischer Flüchtlinge (Talib bedeutet Schüler bzw. Student) findet zunächst Zuspruch in der bürgerkriegsmüden Bevölkerung, besonders im Mehrheitsvolk der Paschtunen. Ihren politischen und Sittenkodex leiten die Taliban aus der Scharia und dem Paschtunwali ab, der Mädchen und Frauen aus der Öffentlichkeit verbannt, dazu ihre Bildungsmöglichkeiten beschränkt. Geistlicher Führer ist um diese Zeit Mullah Mohammed Omar, der nie ein Amt in der staatlichen Exekutive übernimmt. Gestürzt wird die Taliban-Regierung im Oktober 2001 durch eine US-Invasion, nachdem die Regierung Bush das Regime in Kabul als Unterstützer weltweiter Terrornetze angeklagt hat.

„Jetzt bin ich den ganzen Tag zu Hause und habe nichts zu tun. Ich koche oder wasche Kleidung und habe das Gefühl, im Gefängnis zu sein“, klagt die 15-jährige Arifa aus Kabul, die gehofft hatte, ihre ausgezeichneten Noten würden einen Weg ebnen, um der Familie aus der Armut zu helfen. „Ich habe das Gefühl, nicht mehr länger Mitglied der afghanischen Gesellschaft zu sein.“ Vor einem Jahr rissen Selbstmordattentäter mehrere ihrer Schulkameradinnen mit in den Tod. Arifa ging trotzdem weiter zur Schule. Sie setzt auf die gleiche Entschlossenheit, um jetzt das quälende Warten zu ertragen. „Ich vermisse meine Freundinnen, aber wir haben nie aufgegeben. Wir wollen, dass die Türen der Schule sich wieder öffnen.“

Es kann aufschlussreich sein, der Frage nachzugehen, weshalb manche Schulen den Unterricht wieder aufnehmen konnten oder sogar nie geschlossen wurden. Zu den Provinzen, in denen für junge Afghaninnen das Lernen weiter erlaubt ist, zählen außer Zabul auch Herat im Westen und Balkh im Norden. Gegenden mit Unterschieden in der ethnischen Zusammensetzung, der Unterstützung für die Taliban oder der Haltung zur Bildung von Frauen. An manchen Orten sind entrüstete Landsleute den Taliban mit Protesten, Streiks oder Appellen entgegengetreten und haben dabei ihre Jobs, vielleicht ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Zuweilen greifen die Taliban hart gegen Frauenrechtlerinnen durch. Momentan herrscht Ungewissheit über das Schicksal von sechs Aktivistinnen, die im Januar in Kabul entführt wurden. In der Region Herat ging die einprägsame Rede einer Schülerin viral, die auf ihrem Recht zum Schulbesuch bestand. Lehrergewerkschaften drohten mit massiven öffentlichen Aktionen für den Fall, dass Mädchen vom Schulbesuch suspendiert würden. Die Behörden gaben nach, allerdings durften die Betroffenen nicht an den Klausuren zum Jahresabschluss teilnehmen.

In Zabul sind lokale Frauenrechtlerinnen davon überzeugt, dass Schulleiterin Tokhi mit ihrer klaren Haltung bewirkt hat, dass die Taliban einen unerwarteten Weg gegangen sind, auch wenn die Direktorin mittlerweile abgesetzt wurde. „Ich war von Anfang an sehr direkt“, sagt sie, „aber wegen meines Einsatzes für die Schülerinnen habe ich wahrscheinlich meine Stelle verloren.“ Auch andernorts, etwa in der Stadt Mazar-e Scharif im Norden, scheinen die Taliban von Anfang an um Toleranz bemüht gewesen zu sein, weil sie die tief verwurzelte Unterstützung für die Schulbildung von Frauen erkannten. Mawlawi Mohammad Naeem, neuer Bildungssenator der Stadt, verweist auf seine Frau, die in einer Schule unterrichte. Er sei stolz auf ihre Arbeit, auch wenn ihn deshalb andere Taliban verachteten. „Wir versuchen hier, eine sehr gute Ausbildung für Mädchen zu gewährleisten. Die Schulen haben wir am zweiten Tag nach dem Machtwechsel in Mazar-e Scharif wieder geöffnet“, erzählt Mohammad Naeem, während er eine Lehranstalt inspiziert. Er ist mit einer Pistole und einem Munitionsgurt bewaffnet. „Wir möchten in der Zukunft gute Mütter und Schwestern haben, und dafür ist Bildung entscheidend.“

Starker Eingriff in das Leben von Frauen und Mädchen

Die Provinzen, in denen die Mädchen weiter zur Schule gehen, geben Hoffnung. Zugleich wird deutlich, wie stark die neue afghanische Administration in das Leben von Frauen und Mädchen eingreift, selbst in Gegenden, in denen sie moderat regiert. Die Zukunft von jungen Frauen, die es schaffen, einen Abschluss zu machen, bleibt beeinträchtigt, solange sie vorrangig für das Gesundheits- und Schulwesen vorgesehen sind. „Früher war es mein Traum, Präsidentin von Afghanistan zu werden. Aber das hat sich geändert, jetzt hoffe ich, Ärztin werden zu können“, sagte Narges, die in Zabul zwölf Jahre zur Schule ging.

Die Verbannung männlicher Kollegen aus Schulen für Mädchen bedeutet, dass weniger Pädagogen zur Verfügung stehen, vor allem weniger Fachlehrer. Ganz abgesehen von drohender Schließung, die nach wie vor wie eine böse Verheißung auf vielen Schulen lastet. „Manchmal muss ich weinen, weil den Leuten in Afghanistan die Offenheit und Toleranz fehlt, um Mädchen die nötige Bildung zu gestatten“, meint Zainab, ebenfalls eine Oberschülerin aus Zabul. Ihr würden Geschichten über Mädchen, die andernorts vom Unterricht ausgeschlossen wurden, schwer zu schaffen machen.

Zwar deuten die Taliban an, der fünfmonatige Ausschluss von Mädchen aus den Highschools sei nur vorübergehend. Taliban-Sprecher Suhail Shaheen sagte der BBC: „Ich hoffe, dass im März mit der Rückkehr der Jungen in die Schulen nach der langen Winterpause auch die Mädchen dabei sind.“ Westliche Hilfsorganisationen versuchen, dieses Versprechen mit dem Angebot zu unterstützen, die Gehälter für Lehrerinnen zu übernehmen, sollten die wieder Mädchen unterrichten dürfen. Teilweise argumentieren die Taliban, es müssten erst neue Schulen gebaut werden, damit Mädchen isoliert lernen könnten. Doch waren Schüler und Schülerinnen auch unter der pro-westlichen Regierung getrennt.

Viele fürchten ein langes Verbot

Menschen in Afghanistan, die sich noch an die erste Taliban-Regierung (1996 – 2001) erinnern, bleiben skeptisch. Seinerzeit wurde ein Schulverbot für Mädchen mit vorübergehenden Sicherheitsbedenken gerechtfertigt, aber in den fünf Jahren der Taliban-Regierungszeit nie wieder aufgehoben. Viele fürchten daher, dass sich auch das neue Verbot endlos hinzieht. Dabei führt die Schulöffnung in der konservativen Provinz Zabul Behauptungen ad absurdum, das Bildungssystem brauche mehr Wandel.

Viele der höheren Taliban-Führer begrüßen heute eine Schulbildung für die eigenen Töchter. Und selbst einfache Kämpfer sind weniger misstrauisch gegenüber dem Lernen nach westlichem Stil. In einer privaten Akademie entschlossen sich Taliban, die früher vielleicht Schulräume angegriffen hätten, Englisch- und IT-Kenntnisse zu erwerben. Ein Lehrer berichtet: „Eine Gruppe kam herein, und ich hörte, wie einer sagte: ‚Früher hätten wir Schüler an Orten wie diesen getötet, jetzt lernen wir hier selbst.‘“

Tatsache ist, die Taliban haben 2021 ein radikal anderes Land übernommen als zu Beginn ihrer Herrschaft im September 1996. Damals schätzte UNICEF, dass nur vier bis fünf Prozent aller Kinder im Grundschulalter unterrichtet wurden. Heute gibt es eine Generation von ausgebildeten jungen Menschen, die bereit sind, für das Recht auf Bildung zu kämpfen. „Wir lassen uns da nicht beirren“, beteuert die Frauenrechtlerin Mahbouba Seraj, die in Kabul lebt. „Im Koran findet sich nichts, was es erlauben würde, Frauen die Schule zu verbieten.“ Die Zeiten hätten sich verändert. „Als die Taliban erstmals die Macht übernahmen, gab es keine Frauen, die es gewagt hätten, ihre Stimme bei dieser Frage zu erheben, auch niemand sonst hätte das getan. Aber so funktioniert es nicht mehr, weil wir ihnen im Nacken sitzen.“

Emma Graham-Harrison ist internationale Korrespondentin des Guardian

Jordan Bryon kommt aus Australien, dreht Dokumentarfilme und lebt in Kabul

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