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Abstiegsangst | Obacht: Die Mittelschicht macht sich Sorgen!


Link [2022-06-11 14:42:41]



Das Leben wird für alle teurer – aber ein Milieu macht der FDP dabei besondere Sorgen: Die Mitte

Sollten jemals Außerirdische in die Verlegenheit kommen, Berlin zu besuchen, dann würden sie sehr schnell den beliebtesten, begehrtesten und umworbensten Ort in der politischen Landschaft entdecken. Der Ort heißt „Mitte“, und bewohnt wird er von einem ebenso beliebten und umworbenen Volk: der Mittelschicht.

Wie genau sich die gesellschaftliche Mitte beziehungsweise die Mittelschicht zusammensetzt, ist eine Frage der Definition. Aber in allen Untersuchungen stellt sie immer noch die größte sozioökonomische Gruppe dar, jedenfalls in Deutschland. Und deshalb wird die Politik parteiübergreifend unruhig, wenn es in der Mitte rumort. Ohne sie werden keine Wahlen gewonnen, anders als in den armen Vierteln, wo die Mehrheit das Wählen schon aufgegeben hat.

Die Sorge um die Mitte grassiert natürlich erst recht in Zeiten von Krieg, Inflation und Klimawandel. „Eine große Mehrheit der Menschen ist verantwortungsbewusst und geht gefasst, ja geradezu duldsam mit den Herausforderungen um“, hat der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner gerade dem Focus gesagt, aber: „Zugleich wächst der Druck, der sich aufgrund einer allgemeinen Unzufriedenheit neuerdings auch aus der Mitte der Gesellschaft artikuliert“.

Die Hartz-IV-Lösung

Es verwundert also nicht, dass jetzt über Hilfen für die mittleren Einkommensschichten nachgedacht wird. Das ist, Lindner hin oder her, sicher kein Fehler. Es fragt sich nur, wie. Denn auch hinter dieser Debatte steckt eine sehr grundlegende Frage: Soll die Mitte weiter durch Abstiegsangst angetrieben werden, wie es das System Hartz IV mit sich bringt – oder kehrt der Sozialstaat zu einer Politik zurück, die der Absturzgefahr in die Armut Wirksames entgegensetzt?

Wo der freidemokratische Bundesfinanzminister in dieser Auseinandersetzung steht, ist klar: Seine Klientel besteht ausschließlich aus denjenigen, die er im Interview mit der Passauer Neuen Presse gerade wieder als „arbeitende Mitte“ bezeichnet hat. Sie will er durch Erleichterungen bei der Steuer entlasten. „Im Blick haben“ will Lindner zwar auch „Menschen, die auf Transferzahlungen angewiesen sind“, so sagte er es dem Focus. Aber im selben Atemzug machte er klar, dass für sie in seiner Welt nicht mehr drin ist als die spärliche Erhöhung der Regelsätze nach dem jetzigen System. Und von künftigen Steuerentlastungen ausgeschlossen wären nicht nur alle, die nicht arbeiten (können), sondern auch diejenigen, die mit ihren Niedriglöhnen unter dem – immerhin angehobenen – Grundfreibetrag liegen.

Lindners SPD-Kollege im Sozialministerium, Hubertus Heil, lässt nun zumindest Konturen der entgegengesetzten Strategie erkennen: Sein „Klimageld“ ist mit etwas gutem Willen als Versuch zu lesen, die Interessen der am meisten Benachteiligten mit denen der Einkommensmitte zu versöhnen. Im Gespräch mit der Berliner Morgenpost formulierte es der Minister so: „Diejenigen, die es am nötigsten brauchen, bekommen am meisten. Diejenigen, die es nicht so nötig brauchen, bekommen etwas. Und diejenigen, die viel verdienen, bekommen nichts.“

Die von Heil angestrebte Obergrenze von 4.000 Euro pro Person und Monat, bis zu der das Klimageld gezahlt werden soll, liegt übrigens nur knapp über dem mittleren Bruttogehalt von etwa 3.700 Euro (Stand 2021) – also in der „gesellschaftlichen Mitte“. Zur Einordnung: Ein Arzt verdient laut Gehaltsreport 2022 im Median etwa 6.500 Euro monatlich und würde damit Heils Klimageld nicht bekommen, im Gegensatz zu einer Angestellten im Gesundheitswesen mit einem monatlichen Medianeinkommen von 3.150 Euro.

Als zusätzlichen sozialen Akzent nannte der Sozialminister einen Anstieg des Regelsatzes um 40 bis 50 Euro, wenn von Hartz IV auf das neue „Bürgergeld“ umgestellt wird – sicher nicht genug, aber sicher mehr, als ein Christian Lindner gern genehmigen würde.

Auch wenn den Grünen bei Heils Ideen die Klimakomponente fehlt, liegt FDP-Mann Lindner nicht ganz falsch, wenn er sagt, Rot-Grün wolle „massiv Umverteilung organisieren“. Nur dass der Finanzminister das leider vorwurfsvoll meint.

Vielleicht sollte Lindner mal die „Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stiftung lesen. Sie zeigen, dass offen diskriminierende Einstellungen zwar rückläufig sind, aber: „Das kann auch bedeuten, dass die Mitte in Teilen abwertend eingestellt ist und sich in den Graubereich flüchtet“. So wurde zwar „nur“ bei einem Viertel der Befragten für die Jahre 2020 und 2021 eine offen abwertende Haltung gegenüber Langzeitarbeitslosen festgestellt (2014 waren es noch mehr als 47 Prozent), aber weitere 40 Prozent neigen zur Abwertung „teils/teils“.

Abstiegsangst verwandelt sich in Ressentiment: Die Frage ist, ob Politik dieser Gefahr etwas entgegensetzen will oder nicht. Genau hier liegt die tiefe Bruchlinie einer Ampelkoalition, in der zusammenwachsen soll, was nicht zusammengehört.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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