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A-Z | Umweltirrtümer: Verursachen Streaming-Anbieter wirklich so viel CO2?


Link [2022-03-12 15:59:11]



Von schädlichen Energiesparlampen, nichtssagenden Relikten bei der Mülltrennung, Gefahren für Rotmilane und dem Stromverbrauch beim Streaming A

Auto Das mit der Moral ist so eine Sache. Sie ist ein wackeliges Vehikel zur Durchsetzung von emotional getragenen Werteansichten. Die kollektive Moral trennt sich irgendwann von den individuellen Bedürfnissen. Man kann gut im Prenzlauer Berg in seiner Altbauwohnung mit Schiebetür sitzen und rülpsen, wie sehr das Auto doch verzichtbar ist (➝ Kinder). Letztens kam ich aber wieder in meine Heimatstadt Hameln. Hier und noch mehr im Landkreis sind sie frühabends und nachts ohne Auto eines: auf sich selbst und ein Anrufsammeltaxi gestellt. Beides keine Aussichten, die ein verkehrsgesättigter Vorzeigebewohner der Hauptstadt in realem Eigenerleben kennt oder kennen will. Moral zu leben, heißt zur Moral gerade dann zu stehen, wenn es keinen Applaus gibt. Hameln nach 18.30 Uhr, nachdem der letzte Bus gefahren ist, eine Probe für Ihr moralisches Rückgrat. Jan C. Behmann

E

Energiesparlampe EU-Verordnung mit Folgen: Als 2009 das Aus für herkömmliche Glühbirnen beschlossen war, wurden sie von den einen gehortet und von anderen eiligst herausgeschraubt. Im Hotelzimmer nur eine trübe Funzel – bis es hell wird, kann es dauern. Energiesparlampen zwingen zur Entschleunigung. Also schimpf nicht über EU-Eingriffe. Begreif doch endlich: Bei Glühbirnen geht viel zu viel Energie durch Wärme verloren. Frag nicht, welche Kosten entstehen, wenn man alle Glühbirnen entsorgt und durch Energiesparlampen ersetzt. Was für ein Verkaufserfolg! Der rief geradezu nach Wiederholung. Bald kamen die „Licht emittierenden Dioden“ auf den Markt. Da kein Glühfaden erhitzt werden muss, versprechen die LEDs eine effiziente Lichterzeugung und enthalten keine giftigen Chemikalien. Zerbrochene Energiesparlampen sind dagegen nicht nur schädlich für die Gesundheit (Quecksilberdämpfe), sondern auch für die Umwelt. Also hat sie die EU (➝ Rotmilan) 2021 aus dem Verkehr gezogen. Irmtraud Gutschke

K

Kinder Der Londoner Freund ist Veganer, er machte uns Porridge zum Frühstück, abends wollte er missionieren. Er fluchte über argentinische Rinderweiden, die Vorhölle. Dann sagte er, Kinder seien das Allerschlimmste für die Umwelt. Ich war gerade im sechsten Monat schwanger. Er klang wie die Aktivist:innen von #Birthstrike, die den Verzicht auf Kinder fordern, um das Klima zu retten. Laut einer schwedischen Studie von 2017 spare der Verzicht auf ein Kind mehr als zehnmal so viel CO2-Emissionen ein wie der Verzicht auf ein ➝ Auto. Die Daten, auf denen die Studie gründet, sind jedoch umstritten. Über mehrere Generationen hinweg werden gleiche Werte angenommen, zwischen dem ökologischen Fußabdruck eines Babys und dem eines Erwachsenen wird nicht unterschieden. Auch für Autorin Verena Brunschweiger (Kinderfrei statt kinderlos. Ein Manifest) ist Nachwuchs die Klimasünde Nummer eins, so wie Auto, Flugreise und Steak, nur schlimmer: Der Geobiologe Reinhold Leinfelder findet das zynisch. Auf die Überbevölkerung zu verweisen, sei eine Standardausrede, keine anderen Maßnahmen zu ergreifen. Außerdem mache der Lebensstil den Unterschied, nicht die reine Bevölkerungszahl. Und jüngere Generationen ändern ihren Konsum. Maxi Leinkauf

M

Mülltrennung Die den Deutschen heilige Praxis der Mülltrennung ist leider nicht so effizient, wie wir glauben. Denn es wird nur die Hälfte der recyclingfähigen Materialien auch wirklich wiederverwertet. Das ist regional verschieden, liegt an Quoten und der Anzahl an Müllverbrennungsanlagen, die auch in Betrieb gehalten werden wollen. So ärgerlich das ist, macht es Mülltrennen aber nicht ganz unnütz. Den Grünen Punkt kann man vergessen, der ist ein nichtssagendes Relikt aus der Vergangenheit. Jeglicher Verpackungsmüll – außer Pappe und Glas – kommt in die Gelbe Tonne. Ökologisch sinnvoll ist es, hier allen Kunststoffabfall zu entsorgen, damit er zumindest potenziell wiederverwertet werden kann. Legal ist das nur bei den sogenannten Wertstofftonnen, die nicht überall stehen. Da muss man sich im Zweifelsfall beim Entsorger informieren. Tobias Prüwer

N

Neuer Kühlschrank „Hörst du, wie der faucht? Der läuft die ganze Zeit.“ – „Macht er nicht, das ist ein Einbaukühlschrank mit einer speziellen Technologie.“ – „Wie lange haben wir den schon?“ – „Zwölf Jahre, fünfzehn, aber er kühlt ganz normal.“ – „Und der Stromverbrauch?“ – Und wie viel Energie kostet die Herstellung eines Kühlschranks?“ – Am Ende haben wir es aufgeschoben. Nicht nur, weil umweltschädliche Chemikalien (➝ Plastiktüte)mit zu entsorgen sind, sondern auch, weil es uns leidtut, Funktionstüchtiges wegzuwerfen. Irmtraud Gutschke

R

Rotmilan Wesentlich, um Deutschlands Klimaziele zu erreichen, ist der Ausbau der Windkraft. Was spricht dagegen? Das angebliche Sterben des Rotmilans etwa. Nun wurde durch ein Forschungsprojekt der EU-Kommission (➝ Energiesparlampe) herausgefunden, dass Rotmilane gar nicht durch den Ausbau der Windkraft gefährdet sind. Bei circa 700 toten Greifvögeln, die mit GPS-Sendern ausgestattet waren, wurden die Todesursachen untersucht. Die häufigste ist menschengemacht: wenn Rotmilane vergiftete Ratten oder Mäuse fressen. Ein weiterer Grund ist der illegale Abschuss. Ein dritter Stromschlag. Eine eher ungewöhnliche Ursache: wenn die Vögel von Zügen erfasst werden. Und noch seltener sterben die Tiere durch Windräder. Dank GPS ist klar: Rotmilane können tausend Stunden im Windpark verbringen, ohne gegen die Rotorblätter zu fliegen. Trotzdem klagen Naturschützer regelmäßig erfolgreich. In der aktuellen Roten Liste der Brutvögel wurde der Rotmilan in die beste Kategorie eingeordnet. Elke Allenstein

S

Schwerindustrie Als vor allem in Bergregionen die Kiefernplantagen, die man Wälder nannte, in den Siebzigerjahren dramatisch verdorrten, war kommuner Konsens: Schweflige Industriegase waren schuld. Das Waldsterben wurde Inbegriff der German Angst, Auslöser von sich apokalyptisch überbietenden Medienbeiträgen und noch apokalyptischerer Lyrik. Nach der Einführung von Entschwefelungsanlagen bekam der saure Regen Saures. Während etwa im Erzgebirge weiter baumgestorben wurde, erholte sich der Wald im Westen allmählich – bis zum neuerlichen Waldsterben heute in Ost wie West, an dem nun der Klimawandel die Schuld trägt. Damals indes gab es auch andernorts Waldsterben, zum Beispiel auf Hawaii, wo gar keine Industrie mit schwefligen Emissionen existierte. Inzwischen sieht man daher eine andere Ursache als primär an, nämlich anhaltender Trockenstress der Bäume in den ungewöhnlich trockenen Sommern (➝ Vögelfüttern) zwischen 1976 und 1983. Die industriellen Emissionen waren da lediglich Verstärker. Erhard Schütz

P

Plastiktüte Aber er habe doch jetzt ein E-➝ Auto, ruft mir Paul freudestrahlend zu. Es klingt, als habe er die Weltformel entdeckt. In einer Welt, in der sowohl die Makro- als auch die Mikroperspektive die Menschen immer mehr überfordert, kann diese emotionale Missannahme nachsichtig eingeordnet werden. Die Menschen sind hilflos und suchen nach Rettungsankern. Die Plastiktüte wurde bereits ins Nirvana geschickt. Wird das die Welt retten? Wohl kaum. Die Ökobilanz der Papiertüte ist übrigens nicht viel besser als die der Plastiktüte. Denn deren Herstellung benötigt fast doppelt so viel Energie. Luft und Wasser werden durch Stickoxide, Schwefeldioxide u. a. Chemikalien belastet. Wiederverwendbar ist die Papiertüte ja auch nicht. Jan C. Behmann

V

Vögelfüttern Früher hieß es, man dürfe Vögel nur im Winter füttern und nur dann, wenn eine dicke Decke Schnee liegt. Ansonsten würden Vögel immer genügend Nahrung ohne menschliche Hilfe finden. Das stimmt aber nicht für alle Regionen. Und auch außerhalb von Frost und Schnee können Vögeln Nahrungsquellen fehlen. Außerdem, so das Argument der Fütter-Kritiker, würde der Eingriff des Menschen die natürliche Auslese aussetzen und schwächere Tiere durchbringen. Das stimmt nicht, belegen neue Forschungen (➝ Zappen) . Sie regen an, während der gesamten Wintersaison zu füttern. Andere raten sogar zum ganzjährigen Füttern, zumindest in Regionen mit geringem Nahrungsangebot und monokulturellem Bewuchs. Das schadet auch den Jungvögeln nicht, wie früher angenommen wurde.Die Vögel wissen sehr gut, was ihre Jungen fressen, und jagen weiterhin Insekten, statt zum bequemen Körnerfutter zu greifen, das die Brut noch nicht verdauen kann.

Das Zufüttern erscheint den Experten als ein Mittel des Tierschutzes. Wem das noch zu ungewohnt ist und wer etwas Platz im Garten oder auf der Fensterbank hat, kann Futterpflanzen anpflanzen, statt Futter auszulegen. Sträucher mit Dornen können bis in den Spätherbst mit Beeren aufwarten und bieten sichere Nistplätze. Kirschlorbeer, Wacholder und die früh blühende Kornelle sind bestens geeignete Gehölze. Persönlicher Tipp: An Kosmeen kommen Stieglitze einfach nicht vorbei, glauben Sie mir. Tobias Prüwer

W

Wasserhahn In meiner Kindheit der 90er Jahre gab es einen Fernsehspot, der ging so: Wüste, Trockenheit, ein einsames Völkchen schöpft aus einer kleinen Pfütze mühsam ein paar Tropfen. Schnitt. In einem Bad putzt jemand Zähne und lässt Wasser laufen. Schnitt. Hitze, Tropfen. Schnitt. Laufender Hahn, rauschendes Wasser. Klare Botschaft: Wasser ist knapp, und wer brav den Hahn zudreht, die Spülstopptaste drückt und das Sparprogramm des Geschirrspülers benutzt, tut der Welt etwas Gutes. Als Kind erschien mir das logisch, aber: Nur weil hier weniger Wasser in den Kreislauf fließt, ist nicht woanders plötzlich mehr davon da. In den 90ern wurden in Deutschland im Schnitt 150 Liter Wasser pro Tag verbraucht. Mittlerweile sind es circa 130, deutlich weniger als einst prognostiziert. Dadurch korrodieren Leitungen schneller. Vielleicht ist es sinnvoller, an anderer Stelle zu sparen. Zum Vergleich: Eine Toilettenspülung verbraucht etwa fünf Liter, ein Kilo Avocados aus dem Supermarkt knapp 1.000. Konstantin Nowotny

Z

Zappen Während der Lockdowns hatten Streaminganbieter Hochkonjunktur. Angeblich verursacht eine halbe Stunde Streaming so viele CO2-Emissionen wie eine Autofahrt von über sechs Kilometern. Das ergab eine Studie des The Shift Project von 2019. Und zwar bei der Produktion selbst, der Speicherung des Materials, beim Transport der Daten und beim Anschauen auf einem Endgerät. Der Stromverbrauch variiert aber, er hängt davon ab, ob über W-Lan oder mobile Daten gestreamt wird und ob eine Glasfaserkabelverbindung besteht. Eine neue Recherche des Fraunhofer-Instituts zeigt, dass Streamen zwar klimaschädliche Treibhausgase verursacht, widerlegt aber die Behauptungen der Studie. Elke Allenstein

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