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A-Z | Neue Bücher, Musikalben und Theaterstücke unserer Autor:innen


Link [2022-06-12 12:42:00]



Was wäre der Freitag ohne die klugen und originellen Texte seiner Autor:innen? Sie schreiben aber auch Bücher, machen Musik, inspirieren Theaterstücke. Es geht um Politiker, Hunde, Arbeitskämpfe, Armut und Sex A

Anwalt Wer bei Peter-Michael Diestel in Zislow zu Gast ist, kann seine Trophäen bewundern, der passionierte Jäger stellt sie in seinem Haus aus. „Das ist doch peinlich“, befindet der Journalist Michael Hametner, als er mit Diestel über dessen bewegtes Leben ein mehrtägiges Gespräch führt. Herausgekommen ist das Buch: Ruhe gebe ich nicht, Gespräche über die unvollendete deutsche Einheit (Das Neue Berlin). Es sind die Jahre nach 1989, die den Katholiken, Juristen und selbst ernannten Lebemann ins ➝ Zentrum deutscher Politik katapultieren. Diestel war ab April 1990 Innenminister im letzten DDR-Kabinett und einziger Stellvertreter von Lothar de Maizière. Inzwischen tritt er als Anwalt der Ostdeutschen auf, deren untergeordnete Rolle ihn bis heute umtreibt. Auch Michael Hametner reibt sich daran seit vielen Jahren, er und Diestel kennen sich schon länger, man spürt es in diesem Gespräch auf Augenhöhe. Es ist nicht nur unterhaltsam, sondern ein Stück Zeitgeschichte. Maxi Leinkauf

E

Evergreen Zwischen- und innerstaatliche Verteilungskämpfe, instabile Finanzmärkte, Naturkatastrophen, von Corona bloßgestellte Mängel in der Daseinsvorsorge selbst der reichen Länder: Dieses Krisenpanorama ist etwa in Der große Umbruch nachzulesen, dem verschwörungsmythisierten Buch von Davos-Initiator Klaus Schwab. Oder genauer und ohne stabilisierende Agenda im Sammelband Fortschritt in neuen Farben? von Frank Deppe, Georg Fülberth und André Leisewitz (PapyRossa). Dass Frank Deppe hier mit Schwab-Zitaten aufwartet, ist bezeichnend: Von Joe Biden bis zur Ampel sind solche Diagnosen fast Gemeingut. Ebenso ein Evergreen ist aber, dass das kaum zu Taten führt. Tiefliegende Probleme sind eben nur von unten zu behandeln – weshalb man sich in dem Band mehr als nur einen Aufsatz zu den Akteuren des Wandels wünschte. Velten Schäfer

G

Grüner Hund Kathrin Hartmann ist auf den Hund gekommen: Auf Toni, den Zwergschnauzer. Der muss ein ziemlich fabelhafter Gefährte sein, jedenfalls kriegt man diesen Eindruck, wenn man das Buch liest, das er als Muse inspiriert hat. Denn Hartmann, Autorin der Bestseller Die grüne Lüge und Grüner wird’s nicht, liefert mit Mein grüner Hund (Blessing) die Antwort, wie Hundehaltung ökologisch und ethisch vertretbar möglich ist. Das ist nicht nur sehr unterhaltsam (Katzen seien treulos wie die FDP, Hunde dagegen wie Genossen!), sondern auch fantastisch recherchiert und kenntnisreich: Es geht um die Klimabilanz von Hunden, um die Möglichkeit ihrer fleischlosen Ernährung und die Missstände in der Hundefutterindustrie, die australische Kängurus und argentinische Polopferde verarbeitet. Hartmann besucht Tierheime in Griechenland, schreibt von Streunern in Rumänien und von krankgezüchteten Kreaturen auf Rassehunde-Ausstellungen. Zwergschnauzer Toni, der unter dem Pseudonym den Instagram-Account „Antonio Instagramsci“ betreibt, reagierte so auf das Buch: „Wau. Einfach nur Wau!“ Pepe Egger

H

Härte Die minimalistische Inszenierung von Christian Barons Ein Mann seiner Klasse (Schauspiel Hannover) ist, zum Glück, kein Armutsporno, sondern die Darstellung des Romans in seiner realistischen Härte (➝ Raum).Der Vater taucht zweimal auf, einmal als stummer Zimmermann, der im Laufe des Stücks die spärliche Wohnung der Familie aufbaut, und als Stimme aus dem Off. Das macht ihn nicht weniger bedrohlich. Weil die physische und psychische (oft alkoholisierte) Gewalt des Vaters im Theater nicht zu sehen ist, ist sie für den Zuschauer umso bedrückender. Die Vorstellung wird von Passagen aus dem Roman begleitet, vorgetragen von Nikolai Gemel, der Christians Rolle übernimmt. Clara von Rauch

K

Konzerne Amazon, Tesla, Gorillas: Nina Scholz zeigt in ihrer Freitag-Kolumne, bei welchem Konzern (➝ Neoliberal) oder auch in welchen Krankenhäusern gerade die Hütte brennt – weil Belegschaften auf die Barrikaden gehen (Lesen Sie ihre Juni-Kolumne in dieser Ausgabe auf Seite 4). In Ninas jetzt bei Bertz + Fischer erschienenem Buch Die wunden Punkte von Google, Amazon, Deutsche Wohnen & Co. Was tun gegen die Macht der Konzerne? findet sich all das geballt. Lieferdienst-Kuriere im Streik, Tech-Arbeiter*innen auf dem Weg zu einem Betriebsrat: Hier schreibt eine, die ganz nah an den Kämpfen unserer Zeit ist – und an all denen, die sie gerade ausfechten. Sebastian Puschner

N

Neoliberal Es gibt Autoren, die im kleinen Finger mehr Geist haben als viele in der ganzen Hand. Georg Seeßlen ist so einer. Aber trifft diese Leibesmetaphorik überhaupt? Schreibt er nicht an dem einen, großen Text, der aus rein pragmatischen Gründen zerstückelt werden muss, in einen Artikel, in ein Buch? Die jüngste Limitierung ist das Buch Apokalypse & Karneval (Bertz + Fischer), zusammen mit Markus Metz geschrieben. Es zeigt auf dem Cover einen Horrorclown. Das ist insofern kein Zufall, als sich in Seeßlens Schreibstrom Verdichtungen finden, vulgär „Kapitel“ genannt, und dasjenige über die Gruselclowns herausragt. Erkennbar daran, dass man hier besonders viele Häkchen hinter seine Sätze machen will. Der Gruselclown ist das „Böse“ des „Neoliberalismus“ (➝ Evergreen), „andererseits steckt er nun eben auch in seinem Kostüm drin. Indem er anderen Gefahr signalisiert, setzt er sich selbst einer enormen Gefahr aus“. Michael Angele

P

Patriarch Auf Wladimir Putin schaut man heute im Westen durch das Visier eines Schnellfeuergewehrs. Als er 1999 Präsident wurde, war er der Spion, der aus der Kälte kam, bald Autokrat, dann Despot. Der Publizist Roland Bathon stellt in seinem jüngsten Buch „Putin ist nicht der Zar von Russland“ (BoD Verlag) die Frage: Warum wird russisches Regierungshandeln so stark auf den Kremlchef reduziert? Um Abhilfe zu schaffen, lässt er statt westlicher Russlandkenner russische Kolumnisten, Kremlkenner und Analysten zu Wort kommen, die mit dem Klischee des Alleinherrschers nichts anfangen können.Sie beschreiben einen Mediator, der Machteliten wie Bürokratie, Militär, Geheimdienste, Gouverneure und Unternehmer so moderiert, dass Russland so stabil ist, dass es nach außen handlungsfähig bleibt.

Diese Stützen der Gesellschaft nicht seziert, aber skizziert zu haben, ist ein Vorzug dieses Buches, für das Bathon ein Jahr lang recherchiert hat. Lutz Herden

R

Raum Mit einem aufwühlenden Jetzt im Rücken und den Blick nach vorne gerichtet – Mut ist jenseits. Zukunft unbekannt. Sich öffentlich in seiner Verletzlichkeit zu zeigen birgt etwas Kraftvolles, aber auch ein Risiko. Im virtuellen Phyll Magazin (www.phyll.space) verlassen mutige Menschen ihre Komfortzone und berichten von Fruchtbarkeitsstörungen, Nacktheit, Selbstermächtigung, Gewalt im Internet und Todesdrohungen. Der gesellschaftliche Dialog über Gefühle und schambehaftete Themen (➝ Inszenierung) darf nicht abbrechen. Darum erforscht Verena Meyer, wenn sie nicht gerade Fotos für den Freitag recherchiert und auswählt, moderne Gefühlskulturen und gibt leisen und lauten Stimmen die Möglichkeit, gesehen zu werden. Ann-Kristin Ziegler

S

Stubete Wenn früher in den Gaststätten spontan „Ländler-Kapellen“ zusammenkamen, um zu spielen, nannte man das stubete, von Stube. Stubete ist ein schweizerdeutscher Begriff für Session. Marc Ottiker ist Schweizerdeutscher und er mag Sessions. Unser Autor ist im Neben- (oder heimlichen Hauptberuf?) Musiker. Sein Debütalbum mit Mo & Kapelle hat er bei sich zu Hause im Wohnzimmer aufgenommen, der erste Lockdown hatte gerade begonnen. Nun erschien das zweite Werk: Oberhalb der Wahrnehmungsgrenze. Gitarren-Folk-Pop, der an Element of Crime erinnert, diese coole Langeweile, „Paranoia“, die manche mit „Tiefsinn“ verwechseln. Wenn Ottiker auf Schweizerdeutsch singt, wie etwa vom „Wäutverdruss“, versteht man zwar kaum ein Wort, aber kann’s fühlen. Maxi Leinkauf

Ü

Überleben Ruth Herzbergs Laune pendelt zwischen depressiv und ekstatisch – auch in Die aktuelle Situation (Mikrotext), wo ihr Corona-Alltag als alleinerziehende Mutter geschildert wird. „Spongebob und Patrick“ nennt sie ihre zwei Kinder, die ihr auf die Nerven gehen. Männer kommen auch nicht besser weg.

Sex geht trotzdem (➝ Verliebtsein), danach will sie mit einem „I did it“-Shirt durch die Straßen laufen – „wie nach dem Bungee-Jumping“. Dann kommt die Einsamkeit, ein neuer Typ, der beim Sex die Dresden Dolls hört – und anschließend die ganze Nacht mit ihr Squid Game bingen will. Ein ganz normaler Tag im Leben der Ruth Herzberg. Dorian Baganz

V

Verliebtsein Björn Hayer ist unser Mann für das Theater und für die Literatur, für diese Ausgabe knöpfte er sich Doron Rabinovicis köstliche Politsatire Die Umstellung vor (Seite 21). Vor ein paar Wochen wurde ihm der Print-Medienpreis der bayerischen Landeskirche verliehen. In seiner Dankesrede wies er auf die prekäre Situation freier AutorInnen hin. „Ich könnte mittlerweile ein ganzes Buch mit verschlampten Texten, die bestellt, angenommen und dann aber nicht gedruckt wurden, schreiben.“ Lieber Björn, die Zeilen sind angekommen! Hayer ist nicht nur Kulturjournalist, Literaturdozent und Tierethiker, er ist auch Schriftsteller. Seine Lyrikbände Verschwörung einer Landschaft (Quintus) und Verzeichnis der verschwindenden Pfade (Limbus) erzählen von Verliebtsein, Verschüttetem, Verlorenheit (➝ Stubete). Die Gedichte sind wunderschön. Im Herbst erscheint bei Konkursbuch sein Prosa-Debüt, darin soll es wieder melancholisch um Liebe und Tod gehen und, verheißungsvoll, um „utopische Räume“. Katharina Schmitz

Z

Zentrum Unwillkürlich verbinden wir mit dem Wort „Mitte“ etwas Positives. Die politische Mitte, maßvoll handeln, im Zentrum sein statt an der Peripherie – seit der Antike durchzieht eine wirkmächtige Semantik der Mitte (nicht nur) das abendländische Denken. Von Aristoteles’ Mesotes-Lehre führt der Weg bis zum bundesrepublikanischen Gründungsmythos, dass Deutschland eine Mittelstandsgesellschaft sei (➝ Anwalt). Kein Wunder also, dass alle Mitte sein wollen. Dass der Begriff diese positive affektive Konnotation gar nicht verdient hat, ja die Fixierung auf die Mitte sogar gefährlich ist, zeigt Tobias Prüwer in Kritik der Mitte (Parodos) mit Tiefenbohrungen in Kultur, Politik und Geschichte, die das Fundament des Mythos durchlöchern. Schließlich wohnt auch im Sonnensystem eine dunkle Mitte, die alles verschlingt: ein schwarzes Loch. Leander F. Badura

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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