Arts / Culture >> Der Freitag


A-Z | Alles über Ablass


Link [2022-02-27 09:13:33]



Prinz Andrew kann einem Prozess wegen Missbrauchs entgehen, da müssen nur Millionen fließen. Spotify poliert mit Geld sein Image auf – aber auch bei Flugreisen und Scheidung funktioniert noch heute, was Martin Luther einst geißelte A

Arie „In diesen heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht. Und ist ein Mensch gefallen, führt Liebe ihn zur Pflicht.“ Schon seit meiner Kindheit, als mich die Großmutter in Mozarts Oper Die Zauberflöte mitnahm, hat mich die Arie des Sarastro fasziniert. „Wo Mensch den Menschen liebt, kann kein Verräter lauern, weil man dem Feind vergibt.“

Das sei „abstrakter Humanismus“, rügte die Lehrerin. Heute würde ich ihr antworten, dass es im Sinne der Bergpredigt aus dem Neuen Testament immer wieder darum ging, das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ aus dem Alten Testament wenigstens abzuschwächen. Wobei ich mich freilich frage, ob eine Rechtsordnung überhaupt möglich ist, die Schuldige nicht bestraft, sondern auf Besserung durch Einsicht setzt. Ob das Prinzip ➝ Vergeltung wegzudenken ist aus dem Zusammenleben? Ob Abschreckung generell nötig ist? Ob Geschädigte nicht Genugtuung verlangen dürfen? Müsste man nicht schon froh sein, wenn die Blutrache der Vergangenheit angehört? Alles richtig. Und dennoch bleibt mir die Arie des Sarastro im Ohr. Irmtraud Gutschke

E

Elternzeit Ich erzähle euch eine Geschichte, sagte der Pfarrer: Es gab einen Vater, der hatte einen Sohn. Dieser Vater war immer gestresst, immer am Handy, kam in der Woche spät und wollte am Wochenende nicht Fußball spielen, sondern seine Ruhe. „Papa, gib mir zehn Euro“, sagte der Sohn. Bekam er. Am nächsten Wochenende: „Papa, gib mir hundert!“ Und so weiter. Irgendwann ging das Kind mit all den Scheinen zum Vater und sagte: „Hier ist das Geld, Papa. Ich will mir eine Stunde deiner Zeit kaufen.“ Was der Pfarrer da elegant predigte, ist eine Binse: Kinder brauchen Zuwendung. Womöglich gingen ihm auch die Missstände in seiner eigenen Kirche im Kopf rum, es beschäftigte ihn, wie mit Kindern umgegangen wird. Der Junge in der Geschichte hat einfach keine Wahl, er muss sich die Aufmerksamkeit seines Vaters kaufen. Dieser wiederum will sein schlechtes Gewissen loswerden und schmeißt mit Kohle um sich (➝ Scheidung). So banal es klingen mag: Kinder brauchen Zeit mit den Eltern, nicht Geld. Maxi Leinkauf

K

Konzeptkunst Die Hamburger Konzeptkünstlerin Swaantje Güntzel studierte einst Ethnologie in Bonn, war Assistentin von Andreas Slominski und widmet sich in ihren eigenen Arbeiten dem, was man das „moderne Leben“ nennen könnte. Dabei sind kritische Spitzen Teil des Werks: Alleine, aber auch mit ihrem Partner Jan Philip Scheibe entwickelt sie Arbeiten, die verdeutlichen, dass das Konzept des Ablasshandels keinesfalls historisch ist. Und einsteigen in die Kunst von Güntzel kann man schon ab 10 Euro! Die Galerie Holthoff in Hamburg bietet etwa den Fine Art Print Ablasshandel aus dem Jahr 2021 an. 250 Exemplare gibt es davon. Für zehn Euro kann man sich (noch rückwirkend) ein reines Gewissen für die eigenen Müllsünden im öffentlichen Raum der Stadt Hamburg erkaufen (➝ Zertifikate). Der Gewinn geht an die Nabu-Aktion „Fishing for Litter“. Marc Peschke

L

Luther Ablass, den Nachlass der in der Beichte auferlegten Buße, ermöglichte die Kirche bereits seit 500 Jahren, als Martin Luther ihn geißelte. Auch die Zeit, die man im Fegefeuer schmoren musste, konnte so verkürzt werden. Erst waren es eine Rompilgerfahrt oder die Teilnahme an einem Kreuzzug, die den Ablass erwirkten. Später wurde das durch Geld möglich, der Ablass also Ware. Mit dem verbrieften Heil erschloss die Kirche eine neue Finanzquelle. Heute würde man von Kommerzialisierung der Seelsorge sprechen, die Kirchenführern ihren Luxus garantierte. Eine europaweite Kampagne sollte die römische Peterskirche finanzieren. Luther sah darin Betrug, der von Buße und Reue, die essenziell fürs Seelenheil sind, wegführte. Darum richtete er seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel: „Mit Vorsicht sind die (päpstlich-)apostolischen Ablässe zu predigen, damit das Volk nicht fälschlich meint, sie seien den übrigen guten Werken der Liebe vorzuziehen.“ Weil Rom nicht vom lukrativen Geschäft lassen und Luther kleinzumachen gedachte, nahm der Kirchenstreit seinen Lauf. Tobias Prüwer

N

N-Wort Wie heißt es so schön? Alles hat seinen Preis. Spotify dürfte ganz schön schlucken – angesichts des Preises, den der Streamingdienst inzwischen für den Exklusivdeal mit dem umstrittenen Podcaster Joe Rogan für sein Format The Joe Rogan Experience zu bezahlen hat. Kürzlich ließ Musiker Neil Young all seine Alben von der Plattform entfernen, weil er Rogan vorwirft, Falschinformationen über das Coronavirus zu verbreiten. Immer wieder gibt es ähnliche Vorwürfe gegen Rogan – aber auch gegen Spotify, weil die Plattform sich dazu kaum äußert. Das liegt womöglich auch daran, dass Rogan vom schwedischen Konzern ein sattes Gehalt einstreicht. Für die dreieinhalbjährige Exklusivpartnerschaft soll der Podcast-Host laut New York Times 200 Millionen US-Dollar bekommen. Neuerdings gehört auf die Rogan-Rechnung für Spotify auch noch der Ablass. Nachdem Rogan sich für rassistische Äußerungen entschuldigen musste – ein Zusammenschnitt, in dem Rogan wiederholt das „N-Wort“ sagt, wurde veröffentlicht –, sah sich auch Spotify gezwungen zu reagieren. Der Konzern will nun 100 Millionen US-Dollar investieren, um die Inhalte „historisch marginalisierter Gruppen“ zu fördern. Also gerade einmal halb so viel wie in den Deal mit Rogan. Benjamin Knödler

P

Prinz Andrew Wenn jemandem ein immaterieller Schaden zugefügt wird, vor allem körperlicher oder seelischer Natur, kann eine Wiedergutmachung geltend gemacht werden. Oft geschieht das auf finanzielle Art. Oder aber über eine gerichtliche Verurteilung der Täter. Das hat dann eine hohe gesellschaftliche und moralische Signalwirkung. Im Falle eines mutmaßlichen Missbrauchs von Minderjährigen erscheint das besonders wichtig. Wenn sich dann – wie jüngst geschehen – ein Mann mit königlichem Hintergrund außergerichtlich mit der weiblichen Klägerin auf einen finanziellen Vergleich einigt, stellt sich eine Reihe von Fragen: Kann Schmerzensgeld eine derartige Verletzung überhaupt heilen? Und wenn ja, wie hoch muss die Summe dann sein? Im Fall von Prinz Andrew und der Klägerin Virginia Giuffre sollen mehrere Millionen Pfund geflossen sein. Was bedeutet das für all jene Frauen, die nicht medienwirksam gegen einen reichen oder prominenten Täter antreten können? Schützt Reichtum vor Verantwortung und Strafe? Ist so ein Deal nicht eigentlich ein Schuldeingeständnis desjenigen, der die Tat bislang vehement geleugnet hat? Einen Prozess wegen Missbrauchs konnte Prinz Andrew durch den Freikauf abwenden, sein Ruf ist für alle Zeiten verbrannt. Elke Allenstein

Reparationen Die Siegermacht in einem Krieg kann laut Völkerrecht von der unterlegenen Seite Entschädigungen fordern – in Geld, Sachleistungen, Enteignungen von Auslandsvermögen etwa. Ob das nicht auch eine Art Ablasshandel ist, sich von Schuld freizukaufen, fragt man sich. Können Menschenleben mit Geld aufgewogen werden? ➝ Vergeltung am Feind, der schon am Boden liegt? Dürfen Zivilisten – Frauen, Kinder – für Staaten in Haftung genommen werden, die sie sich nicht aussuchen konnten? Und auf der Siegerseite: Kommen die Reparationen wirklich jenen zugute, die unter dem Krieg gelitten haben? Recht und Gerechtigkeit sind zweierlei. Dass in der Sowjetischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem 11.800 Kilometer Eisenbahnschienen demontiert und in die Sowjetunion verbracht wurden, entsprach der Not in diesem am meisten vom deutschen Vernichtungsfeldzug geschädigten Land. Es war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Dass die DDR die Reparationen an die UdSSR alleine trug, lag in der Logik des Kalten Krieges. Und wen wundert, dass die USA für den Krieg in Vietnam angemessene Reparationen verweigerten. Irmtraud Gutschke

S

Scheidung Geld soll als Schmerzmittel allen menschlichen Gefühlsübels herhalten? Egal wie dramatisch die Trennung, wie tief der Graben der ehelichen Zerrüttung oder wie groß der gegenseitige Hass auch sein mögen: Mit genug finanzieller Kompensation (➝ Eltern) scheint alles überwindbar. Scheint. Sie lesen richtig. Denn betrügt sich der Mensch, statt mit anderen, doch am liebsten selbst.

Es ist eine staubtrockene Fama, dass Geld überhaupt irgendeine emotionale Kompensation sein kann. Es ist, wenn überhaupt, ein quantifizierbarer Machtbeweis des Siegens über den anderen. Den Begriff Pyrrhussieg kennen aber dabei wohl nur die wenigsten Parteien. Statt sich im Park zu duellieren oder ähnlich peinlich-antiquierte Methoden zur Wiederherstellung eigentlich nie da gewesener Ehre anzuwenden, wird vor den Gerichten nun eben über den „Wert“ des Ganzen verhandelt und die Moral tanzt Cha-Cha-Cha. Manch böse Zunge zwischen den Frankfurter Bankentürmen sagt mit leicht gepuderter Nase, das gesamte Konstrukt der Ehe sei ein geplanter, unausweichlicher Ablasshandel. Wie Sterben, bloß schlimmer. Und wird sich wohl deshalb mit einem Höchstmaß an Perfidität vor der Judikative gekeilt, weil alle Beteiligten wissen, dass Geld nur heilt, was nie kaputt war: die menschliche Gier. Jan C. Behmann

V

Vergebung Es ist etwas, das es in der katholischen Kirche eigentlich gar nicht gibt. Jedenfalls bedeutet Ablass nicht Vergebung. Als ich das jetzt nachlas, war ich ziemlich erschüttert. Wenn ich früher als Kind zur Beichte ging, war ich der Meinung, damit sei ich aller Sünden ledig. Keineswegs. Die Absolution konnte die schwere Schuld, die ich auf mich geladen hatte, weil ich beim Händler einen Lutscher geklaut hatte, nicht aus der Welt schaffen. Das kann nur Gott, aber wenn ich ordentlich bereue und die 10 Ave Maria bete, kann er die Zeit, die ich im Fegefeuer dafür rösten müsste, etwas verringern oder ganz tilgen. Deutlich wird: Der Katholizismus lockert den Griff auf menschliche Schuld nicht gern.

Mit der „Ablasserei“ kam der Handel mit Gott in die Welt, so als sei der ein gegnerischer Geschäftsmann. ➝ Luthers „gnädiger Gott“ aber lässt sich nichts abhandeln. Er ist kein richtender, sondern ein liebender Gott. Das muss man nicht glauben, aber es hat wesentlich mehr Emanzipatorisches als die Buße- und Sünde- und Aufrechnungspraxis der katholischen Kirche. Magda Geisler

Z

Zertifikate Ein paar Bäume für jede Flugzeugreise gepflanzt, beim Autokauf CO₂-Zertifikate mit erworben und irgendwo einen Quadratmeter Regenwald geschützt, wenn ich die Einwegflasche kaufe: Moderner Ablasshandel verspricht den Freikauf von Ökosünden. Seinen Lebensstil muss man nicht ändern, aber will sich auch nicht schlecht fühlen. Und kompensieren die Zertifikate nicht in der Tat alle Sünden (➝ Konzeptkunst), neutralisieren die Ökobilanz? Der Zertifikatehandel ist zumindest besser, als gar nichts zu tun. Allerdings verführt er dazu, schädliches Verhalten zu zementieren. Ein schlechtes Gewissen kommt nicht mehr auf, weil die Schuld ja ausgeglichen wurde. Außerdem mokieren Kritiker, der Preis der Zertifikate sei zu niedrig, um wirkungsvoll zu sein. Tobias Prüwer

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