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94. Oscarverleihung | Wie es klingt, wenn nur eine Hand klatscht


Link [2022-03-30 23:35:03]



Will Smiths Ohrfeige bei der Oscarverleihung war vielleicht der Skandal, den es brauchte: Sie übertönte all das, was eigentlich falsch lief

Die Kulturgeschichte der Ohrfeige jedenfalls ist seit der 94. Oscar-Verleihung um ein Kapitel reicher. Wenn auch nicht um ein besonders ruhmvolles. Lehrreich hingegen war es schon, was da während einer Veranstaltung passierte, die wie keine andere Live-Übertragung auf Gefühlsausbrüche, auf prominentes Lachen und Weinen setzt und deshalb diese Momente üblicherweise besonders sorgfältig „scripted“ und kontrolliert. Das hatte in seiner Durchschaubarkeit schon immer etwas Klebriges, wozu ein gelegentliches Abweichen vom Script und ein bisschen Chaos ein wohltuendes, herbeigesehntes Gegenmittel bildeten. Die Ohrfeige aber, die Will Smith Chris Rock nach dessen Witz über seine Frau verpasste, war zu viel des Guten, wie man auf Deutsch so sagt. Umso interessanter war, wie lang es dauerte, bis das Chaos tatsächlich begriffen wurde.

Im ersten Moment hing noch der fühlbare Zweifel im Raum, ob es sich bei dem „Schlagabtausch“ nicht doch um einen geplanten Sketch handelte. Auf seine Weise bezeichnend, traute man den Produzenten des Oscar-Abends in ihrem Verlangen nach Quote eben so ziemlich alles zu. Aber die verbale Aggression, die Smith auf seine Attacke folgen ließ, als er schon wieder auf seinem Platz saß, ließ keinen Zweifel mehr am Ernst der Auseinandersetzung zu. Und trotzdem agierte der Saal um ihn herum erst mal nach dem altbewährten Motto: The show must go on. Und genau darin waren einem als Zuschauer diese Stars so nah wie selten: in diesem vielleicht feigen, vielleicht sogar schäbigen Verleugnen und Verdrängen.

Erst mal weitermachen, als sei nichts gewesen. Beifall, ja Standing Ovations für Will Smith, als er seinen Oscar entgegennahm, auch dann noch, als sich draußen, bei den Beobachtern der zweiten Ordnung, schon der Shitstorm zusammenbraute. Gleichzeitig konnte auch die sorgfältigste Kontrolle der übertragenden Kameras nicht verbergen, dass sich die Stimmung im Saal eklatant verändert hatte. Wer welchen Oscar kriegte, wem dankte und wie viele Meilensteine für mehr Diversität und Emanzipation erreicht wurden – das alles war zur Nebensache geworden über der Frage, wie die „Academy“, diese komische Körperschaft von Kunst und Kommerz, damit umgeht, dass einer von ihnen aus der Rolle gefallen ist. Unterdessen vollendete „der Diskurs“ sein Werk auf den sozialen Medien und sorgte dafür, dass der Abend einen Namen erhielt: Desaster.

Die Ohrfeige, so ergab die akribische, am Ende immer zur Gegenintuition neigende Analyse, war vielleicht doch wieder das Beste, was den Oscars in puncto Aufmerksamkeitsgenerierung passieren konnte. Alles andere nämlich erwies sich als böser Reinfall. Die vorab vergebenen Preise, die in editierter Fassung in den Live-Stream eingefügt wurden, verstärkten nur den ohnehin holprigen Charakter der Veranstaltung. Die neu eingeführten, in zweifelhaften Twitterumfragen ermittelten „Fan Favorites“ stellten sich als absolut peinlich heraus. Statt angenehmer Selbstironie lieferten die durch die Zeremonie führenden Komiker:innen selten schlecht gelaunte, ressentimentgeladene Witzeleien. Vom Elefanten im Raum ganz zu schweigen: Mit Coda gewann zwar nicht zum ersten Mal ein eher durchschnittlicher, netter Film, aber zum ersten Mal einer, den niemand im Kino gesehen hat. Auch in Deutschland kam er lediglich im Apple-Streaming-Dienst heraus. Was das für die Industrie bedeutet, darüber wird noch geredet werden müssen, wenn die Ohrfeige längst verhallt ist.

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